3. Engagement für die Eröffnung einer

 

"sozialisationstheoretischen Perspektive"

 

in öffentlichen Debatten

These: Es ist in unserer Gesellschaft eine große und gefährliche Kluft zu beklagen zwischen dem wissenschaftlichen Kenntnisstand im Hinblick auf Bedingungen und Gefährdungen der Persönlichkeitsentwicklung des Menschen und dem entsprechenden öffentlichen Problembewußtsein: Wichtige Erkenntnisse der philosophischen Anthropologie, der Sozialisationsforschung, der Moralisationsforschung, der Hirnforschung und der Bindungsforschung sind bis heute nicht nachhaltig vom öffentlichen Bewußtsein rezipiert worden. Öffentliche Debatten – etwa zu Fragen nach den Ursachen der Kinder- und Jugendkriminalität, der sich häufenden Persönlichkeitsentwicklungsschäden bei Kindern, aber auch der PISA-Misere –, in denen diese Erkenntnisse relevant sind, werden geführt, als gäbe es sie nicht. Kennzeichnend für solche Debatten ist eine erstaunliche anthropologische Ignoranz.

Folgerung: Eine Überwindung der noch immer weit verbreiteten "naturwüchsigen" Vorstellung über den Prozeß der Persönlichkeitsentwicklung und ihre Ersetzung durch eine von Erkenntnissen der Sozialisationsforschung bestimmte "sozialisationstheoretische Perspektive", in der der Persönlichkeitsentwicklungsprozeß in seiner vielfältigen Abhängigkeit von gesellschaftlichen Faktoren als "Drama mit ungewissem Ausgang" betrachtet wird, ist um der Zukunftssicherung unserer Gesellschaft willen dringend erforderlich. Solange die Persönlichkeitsentwicklung naturwüchsig aufgefaßt wird, kann ihre Gefährdung durch ungünstige gesellschaftliche Verhältnisse nicht erfaßt werden.

Hinweis: Das nachfolgend angezeigte Buch über den "werdenden Menschen" will einen Beitrag zur dringend erforderlichen Eröffnung einer "sozialisationstheoretischen Perspektive" in den relevanten öffentlichen Debatten leisten. Es breitet wichtige Erkenntnisse der genannten Wissenschaften allgemein verständlich, aber wissenschaftsnah aus, bündelt sie und stellt sie in eine einheitliche Perspektive, "sozialisationstheoretische Perspektive" genannt, hinein.

 Johannes Schwarte

Der werdende Mensch

Persönlichkeitsentwicklung und Gesellschaft heute.

Westdeutscher Verlag 2003

Das Buch macht auf die vielfältigen Gefährdungen des prinzipiell ergebnisoffenen Prozesses der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes sowie auf die zunehmenden Phänomene gestörter Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft aufmerksam. Dadurch will es gesellschaftliches Problembewußtsein wecken und ein intensiveres öffentliches Nachdenken darüber anstoßen, welche Persönlichkeitsentwicklungsbedingungen unsere Gesellschaft ihrem (ohnehin viel zu geringen) Nachwuchs bietet und wie sehr sie in diesem Bereich durch Ignoranz und Gedankenlosigkeit ihre eigene Zukunft gefährdet, indem sie sich mit suboptimalen Persönlichkeitsentwicklungsbedingungen für ihren Nachwuchs zufrieden gibt.

Aus dem Vorwort:

"Es fehlt diesen Debatten über die sich häufenden Entzivilisierungsphänomene an der Fähigkeit, hinter den Symptomen tieferliegende Ursachen zu sehen oder jedenfalls zu vermuten. Das würde anthropologische Kenntnisse voraussetzen, an denen es unserer Öffentlichkeit mangelt. Wer die öffentlichen Debatten in unserer Gesellschaft zu den genannten Themen in sozialisationstheoretischer Perspektive verfolgt, stellt eine erstaunliche anthropologische Ignoranz fest. Es ist offenkundig, daß wichtige Erkenntnisse der philosophischen Anthropologie und der Sozialisationsforschung über die Bedingungen und Gefährdungen der Persönlichkeitsentwicklung des Menschen, die im Laufe des 20. Jahrhunderts gewonnen wurden und der Öffentlichkeit größtenteils seit Jahrzehnten gut aufbereitet zur Verfügung stehen, bis heute nicht wirklich vom öffentlichen Bewußtsein rezipiert worden sind.

Die Frage nach den Ursachen dieser Diskrepanz zwischen dem wissenschaftlichen Kenntnisstand über Bedingungen und Risiken der Persönlichkeitsentwicklung und den Überzeugungen des öffentlichen Bewußtseins dazu hat mich immer stärker beschäftigt und schließlich in mir den Plan zu einem Buch reifen lassen, das den Versuch darstellt, diese wichtigen Erkenntnisse zu bündeln, zu integrieren und sie in möglichst allgemeinverständlicher, aber durchaus wissenschaftsnaher Form in einer einheitlichen Perspektive der Öffentlichkeit vorzustellen. Das ist das Ziel dieses Buches. Es erhebt nicht den Anspruch, der Öffentlichkeit grundlegend neue Erkenntnisse zu präsentieren. Vielmehr will es auf wichtige Erkenntnisse aufmerksam machen, die teilweise bereits einige Jahrzehnte alt sind (wie die Erkenntnisse der philosophischen Anthropologie und der Sozialisationsforschung), teilweise allerdings auch erst in jüngster Zeit gewonnen wurden (wie die Erkenntnisse der Bindungsforschung und der Hirnforschung), Erkenntnisse jedenfalls, die für die gesamte Gesellschaft und ihr Überleben von grundlegender Bedeutung sind, aber bisher kaum beachtet wurden. Aus diesem Grunde werden wichtige Erkenntnisse der philosophischen Anthropologie, der Sozialisationsforschung, der Bindungsforschung und der Hirnforschung nicht lediglich in knapper Zusammenfassung präsentiert, sondern relativ ausführlich und möglichst  textnah referiert, um den Leser möglichst authentisch mit der Argumentation des jeweiligen Textes vertraut zu machen.

Die erwähnte einheitliche Perspektive der Darstellung ist die von Erkenntnissen der Sozialisationstheorie und Sozialisationsforschung bestimmte, die im Buch der Kürze halber als "sozialisationstheoretische Perspektive" bezeichnet wird. Der Begriff "Sozialisation" enthält im Kern die These, daß die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes und Jugendlichen sehr tiefgreifend von den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie sich vollzieht, und von den sozialen Erfahrungen, die diese Bedingungen mit sich bringen, und ihrer Verarbeitung durch das Kind bzw. den Jugendlichen mitbestimmt wird und daß die Persönlichkeitsentwicklung im Augenblick der Geburt völlig ergebnisoffen ist und also auch partiell oder sogar total mißlingen kann.

Darüber weiß unsere Öffentlichkeit offensichtlich zu wenig. Sie scheint noch immer wie selbstverständlich eine quasi-naturwüchsige Auffassung von der Persönlichkeitsentwicklung des Menschen zu haben: als ob die "Natur" diese Entwicklung gleichsam "verbürgte" und es somit nur eine Frage der Zeit wäre, bis aus dem Neugeborenen ein reifer, mündiger Bürger mit sozial verträglicher Handlungskompetenz und moralischer Verantwortungsfähigkeit geworden ist. Sie glaubt anscheinend nicht, "daß Menschsein von der Wurzel her total mißlingen kann" (Joachim Illies).

Die sozialisationstheoretische Perspektive widerspricht einer naturwüchsigen oder biologistischen Auffassung über die Persönlichkeitsentwicklung, wonach sie analog zu den übrigen Wachstumsprozessen der Natur erfolgen würde und lediglich die Entfaltung eines genetischen Programms darstellte. Diese Auffassung ist - zumeist unausgesprochen und unreflektiert - offenkundig auch in unserer Gesellschaft noch immer sehr weit verbreitet.

Das vorliegende Buch will nicht nur zeigen, wie unangemessen diese Auffassung über die Persönlichkeitsentwicklung angesichts des heutigen anthropologischen Kenntnisstandes ist, sondern auch, wie weitreichend jeweils die Folgen sind: ob man die "Menschwerdung des Menschen" in quasi-naturwüchsiger oder in sozialisationstheoretischer Perspektive betrachtet. Es plädiert dafür, den Prozeß der "Menschwerdung des Menschen" (Sozialisation) als einen ergebnisoffenen und dynamischen zu betrachten und aus der Dynamik dieses ergebnisoffenen und vielfach gefährdeten Prozesses weitreichende gesellschaftliche Folgerungen zu ziehen“.

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Besprechung des Buches "Der werdende Mensch"

Die Tagespost vom 03. Juli 2004:

Kinder auf dem Weg in eine erfüllte Welt

Wer die Entwicklung der Jüngsten fördern will, muss Grenzen ziehen:

Auch Kultur bedarf des Umweltschutzes, nicht nur die Natur

Von Hans-Bernhard Wuermeling

Die viel beklagte Überalterung unserer Gesellschaft ist ja nur zum geringsten Teil darauf zurückzuführen, daß wir immer älter werden dürfen. Unter normalen Umständen wäre das dadurch verursachte Mehr an Rentnern in unserer Bevölkerung mit einer nur geringen Zusatzleistung der Arbeitenden leicht zu versorgen. Aber die Verhältnisse sind nicht normal. Die Überalterung, also die relative Zunahme der Alten, ist zum weitaus größeren Teil auf die zu geringe Zahl nachwachsender Kinder zurückzuführen. Darum sollte man sachgerechter statt von einer Überalterung von einer Unterjüngung sprechen und so die Hauptursache des Phänomens in den Blick rücken.

Seit Jahrzehnten war die Überalterung voraussehbar. Und seit Jahrzehnten weiß man, daß die veränderte Altersstruktur auf lange Sicht irreparabel sein wird, und daß noch kein Konzept gefunden wurde, um die damit zwangsläufig auftretenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu lösen. Die blauäugige Meinung, sie sei mit Einwanderung beherrschbar, wird ihrer Vielschichtigkeit nicht gerecht. Einwanderer haben im übrigen anderes im Sinn, als unsere Rentner zu finanzieren oder gar zu pflegen. Natürlich wäre der unterjüngungsbedingte Teil der Überalterung leicht vermeidbar gewesen, indem man die Familien, die Kinder haben und aufziehen wollen, nicht blindwütig benachteiligt hätte gegenüber denen, die das nicht wollen. Viel zu spät wird heute, weil es nämlich unter den Nägeln brennt, nach einer entsprechenden Familienpolitik gerufen, wobei das, was dazu vorgeschlagen wird, diese Bezeichnung oft kaum verdient. Wer z. B. noch immer nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ruft, leugnet stillschweigend, daß die häusliche Tätigkeit der Frau und Mutter (oder meinetwegen auch des Hausmanns und Vaters) vollwertiger Beruf ist.

Die demographische Katastrophe, in die die deutsche Politik der letzten Jahrzehnte uns geführt hat, wird nur langsam in ihren Auswirkungen (Rentenfrage, Gesundheitswesen, Zuwanderung, Verstädterung) zu einer jeden bedrängenden Realität. Doch wird bei der Betrachtung dieses quantitativen Phänomens der Überalterung, das ja auch zahlenmäßig gut beschreibbar ist, völlig übersehen, daß uns die Politik der letzten Jahrzehnte auch qualitative Veränderungen beschert hat und ständig weiter beschert. Durch sie wird die Entwicklung der wenigen Kinder zu lebensbejahenden, bildungsfähigen, freien und gesellschaftsfähigen Menschen massiv beeinträchtigt, wenn nicht gar verhindert. Phänomene wie die zunehmende Jugendkriminalität und Gewaltbereitschaft und etwa die durch die Pisa-Studie aufgedeckten Bildungsmängel führt Johannes Schwarte in einem breit angelegten Kompendium sozial-anthropologischer Untersuchungen zum geringeren Teil auf eine von ihm so genannte Erziehungsvergessenheit der Eltern, im wesentlichen aber auf eine analog bezeichnete Sozialisationsvergessenheit der Öffentlichkeit zurück.

Schwarte geht von der weitgehend übersehenen Selbstverständlichkeit aus, daß der Mensch zwar alle Anlagen für seine menschliche Entwicklung mitbringt, diese Entwicklung aber nicht wie beim Tier "naturwüchsig", gleichsam wie von selbst abläuft. Sein Menschwerden könne vielmehr total mißlingen, und auch gut werde man nicht von selber. Der Mensch bedürfe darum für seine Entwicklung sowohl der Erziehung, also absichtlicher Einwirkungen, als auch der Sozialisation, d. h. der nicht absichtsgeleiteten Weitergabe von Fähigkeiten und Eigenschaften, die eine menschliche Gesellschaft auszeichnen. Letzteres müsse man sehr umfassend verstehen. Bereits zum Erlernen seines aufrechten Ganges, für den er alle anatomischen Voraussetzungen mitbringe, sei der Mensch auf menschliche Vorbilder angewiesen. Wachse er wie ein Wolfskind unter Tieren auf, dann werde er sich wie diese nur auf allen Vieren fortbewegen. Entsprechendes gelte für seine Sprache, für die ihm normalerweise alle Fähigkeiten zur Verfügung stehen, die er aber nur in der Kommunikation mit sprechenden Menschen erlernen werde. In gleicher Weise gestalte sich der größte Teil seines Verhaltens, seines Sozialverhaltens zumal, in Nachahmung der Menschen, unter denen er aufwachse. Schwartes Aussagen könnte man mit dem Satz zusammenfassen, daß ein Mensch  nicht naturwüchsig, sondern "kulturwüchsig" zum Menschen wird.

Daraus ist aber zu folgern, daß die kulturelle Umwelt der Kinder wegen weit mehr, als gewöhnlich bedacht wird, Aufmerksamkeit verdient. Die Kultur menschlichen Verhaltens und menschlicher Gesittung erhält sich nicht von selbst, sondern bedarf wegen der permanenten Gefahr von Rückfällen in die Barbarei ständiger Rücksicht und Pflege. Angesichts der barbarischen Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts mit zwei Weltkriegen und monströsen Genoziden, die sich allem Anschein nach auch in unserem soeben begonnenen Jahrhundert ungeniert an neuen Orten fortsetzen und angesichts haarsträubender Verrohungen auch in unserem Land, muß bedacht werden, daß es eines moralischen Umweltschutzes bedarf, um das sittliche Erbe der Menschheit zu erhalten. Schwarte schreibt, die Medien kritisierend, daß diese "auf sozialisationsschädliche Weise die Spaßgesellschaft 'unterhalten' und mit moralischer Destruktion gewinnbringend ihre Quoten produzieren und an die Werbeauftraggeber verkaufen..."

Ein jüngstes Beispiel: Die Deutsche Bahn wirbt mit einem Bild, das einen jungen Mann zeigt, der mit seiner ausdrücklich so bezeichneten Freundin offensichtlich in einer Wohnung zusammenlebt. Das ist heute eher die Regel als die Ausnahme. Indem eine respektable Institution wie die Deutsche Bahn dies aber als Selbstverständlichkeit hinstellt, bewirkt sie, daß junge Menschen es auch als selbstverständlich hinnehmen, sie gehen dann Verbindungen ein, die nicht unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen, also mindestens suboptimal ist. Elterliche Erziehung kommt gegen ein solches weitverbreitetes Unterlaufen der Institutionen Ehe und Familie nicht auf. Dabei stehen diese Institutionen dafür, dem ständig möglichen totalen Mißlingen des Menschwerdens entgegenzuwirken.

Schwarte vermißt die Empörung der Öffentlichkeit darüber, daß "den zahlreichen Wertezerstören und Erziehungsverhinderern in ihrer Mitte - insbesondere in den Massenmedien - weitgehend ungehindert das Feld überlassen" werde. Er hält es nach der Erfahrung mit dem auf die Natur bezogenen Umweltschutz, für den man vor wenigen Jahrzehnten nur ein Lächeln übrig hatte, durchaus für realistisch, auf die Dauer einem Grundrecht von Kindern und Jugendlichen auf ein öffentliches Klima (Sozialisationsklima) zum Durchbruch zu verhelfen, das ihrer körperlichen, geistigen, seelischen und moralischen Entwicklung dienlich ist. Dazu will er nicht nur dieses Klima unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellen, sondern darüber hinaus die Gewährleistung möglichst günstiger Sozialisationsbedingungen für Kinder und Jugendliche zur vorrangigen Staatsaufgabe  machen. Letztlich zielt er auch auf eine Änderung des Grundgesetzes. Analog zur bestehenden grundgesetzlichen Einschränkung der Freiheit der Lehre, insofern sie nämlich nicht von der Treue zur Verfassung entbindet, fordert er auch für das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Freiheit der Kunst eine "sozialisatorische Klausel". Diese soll Grundrechte da beschränken, wo ihre Wahrnehmung "sozialisationsschädliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche in der Gesellschaft hat".

Schwartes Forderungen gehen aber noch weiter, nämlich über die reine Schutzfunktion hinaus. Der Staat soll das öffentliche Klima nicht nur schützen, sondern aktiv gestalten. Verlangt bereits die Schutzfunktion, daß der Staat von gewissen verbindlichen Vorstellungen über das zu Schützende, letztlich also über das Menschenbild, ausgeht, so gilt dies für eine positive Gestaltungsfunktion um so mehr. Eine solche kann man dem Staat allenfalls in den eng gezogenen Grenzen des Grundgesetzes zugestehen.

Aber dennoch bleiben durchaus noch zwei Wege, um den sozialanthropologischen Erkenntnissen, für die Schwarte Beachtung verlangt, Geltung zu verschaffen. Einmal kann das grundgesetzlich garantierte Recht des Einzelnen auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit speziell für Kinder und Jugendliche extensiv im Sinne eines Defensivrechtes ausgelegt werden, so daß wenigstens extreme Verletzungen des Sozialklimas abzuwehren sind. Dazu bedarf es der Einsicht des Bundesverfassungsgerichtes in die von Schwarte betonte Bedeutung der kulturellen Umwelt für die Entfaltung der kindlichen und jugendlichen Persönlichkeit. Zu solcher Einsicht ist das BVerfG durchaus in der Lage. Im Kruzifixstreit hat es Klägern Recht gegeben, die das Sozialisationsklima ihrer Kinder durch Kruzifixe in den Schulen gestört fanden. Man muß eben nur klagen. Aber mit juristischen Mitteln allein wird eine Wende zum Besseren nicht zu schaffen sein. Die Erkenntnisse der Sozialanthropologie müßten vielmehr zu einer viel intensiveren Auseinandersetzung aller Verantwortlichen für die geistig-sittliche Entwicklung der jungen Menschen, insbesondere zu einer Auseinandersetzung der Eltern, mit den Fragen der kulturellen Umwelt führen. Wie man sich zu ihr verhalten soll, ist dabei das Entscheidende. So wie sie heute ist, kann man sie weder einfach hinnehmen, noch kann man sich wie in einem Ghetto vor ihr verschließen. Es wird darauf ankommen, sie nicht als etwas unteilbar Ganzes zu sehen und zu beurteilen, sondern aus sehr viel kleineren oder größeren Umwelten zusammengesetzt. Der Einzelne wird von ihnen teils schalenförmig, teils wie von Sektoren umgeben. Für den einen mag der Sektor Fußball von besonderer Bedeutung sein, während das Sammeln von Briefmarken ihn nicht im geringsten interessiert. Ein anderer geht ganz im Sektor klassische Musik auf, legt aber keinen Wert auf körperliches Training. Unter den Sektoren wird also eine Auswahl getroffen. Jede Auswahl eines kulturellen Sektors schließt aber die meisten anderen Sektoren aus, was keineswegs deren Abwertung bedeutet.

Es ist also die jeweilige Kultur, in der man lebt, keineswegs nur etwas Vorgefundenes, sondern auch und ganz wesentlich das Ergebnis einer Auswahl, die notwendig den Verzicht auf das nicht Ausgewählte einschließt. Die Rede von der multikulturellen Gesellschaft will demgegenüber aber den Menschen vorgaukeln, daß alles für jeden und jederzeit ohne Verzicht zu haben ist.

Wer seinen Kindern eine ihrer Entwicklung zum Menschen förderliche kulturelle Umwelt  und mindestens eine, die dieser Entwicklung nicht schaden soll, erhalten will, muß deswegen zunächst für sich selbst eine Auswahl treffen und das Ausgewählte gegen alles andere abgrenzen (...).

Solches Bewußtsein von der Notwendigkeit der Abgrenzung kann und muß wieder wachsen. Die Erkenntnisse der Sozialanthropologie, wie sie Schwarte vorstellt, fordern es. Aus diesem Bewußtsein heraus kann dann auch der Staat in Anspruch genommen werden, um die soziale, geistige und seelische, die kulturelle Umwelt unserer Kinder zu schützen.

Johannes Schwarte: Der werdende Mensch. Persönlichkeitsentwicklung und Gesellschaft heute, Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2003, 556 Seiten, ISBN 3-531-13870-7, EUR 39,90.

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Besprechung des Aufsatzes "Entzivilisierungsphänomene bei Kindern und Jugendlichen“

In: Die Neue Ordnung 54, 1/2000)

Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 14. Juni 2000:

Erziehungssabotage

Rückblick auf die Familie

Von Arnulf Baring

Der Münsteraner Sozialethiker Johannes Schwarte schreibt in Heft 1/2000 der "Neuen Ordnung", seit Anfang der neunziger Jahre beobachte man bei uns mehr und mehr neuartige Krisensymptome, was beunruhigend sei, weil es die deutsche Gesellschaft zentral kennzeichne: zunehmende Gewalttätigkeit, eine kontinuierlich ansteigende Kinder- und Jugendkriminalität, auffällige Entwicklungsstörungen bei Schulanfängern, vermehrte Konzentrationsunfähigkeit unter Schülern, daher sinkende Leistungen, mehr und mehr deutsche Analphabeten. Dies alles, meint Schwarte, müsse als Folge gravierender Sozialisationsdefizite begriffen, längerfristig als Entzivilisierungsphänomen gedeutet werden. Damit gehe es um erheblich mehr als das persönliche Leben dieser Kinder und Jugendlichen. "Es steht der humane und zivilisatorische Standard unserer Gesellschaft und natürlich auch ihre Zukunftsfähigkeit auf dem Spiel. Wenn nichts geschieht, was den Gang der Dinge unterbricht, werden wir vermutlich in eine hochtechnische Barbarei hineinstolpern." Die Ursachen der erwähnten Fehlentwicklungen sieht Schwarte einerseits in einer, wie er sagt, "gesamtgesellschaftlichen Erziehungsvergessenheit", andererseits in dramatisch verschlechterten Lebens- und Entwicklungsbedingungen nachwachsender Generationen. Die Zermürbung der klassischen Sozialisationsinstanzen (vor allem Familie und Schule) führe zur Rückkehr der Gewalt. "Die traditionelle Moral geht, und die neue Gewalt kommt."

Schwarte geißelt die "strukturelle Rücksichtslosigkeit" der Gesellschaft Familien gegenüber. Alle Bereiche, schreibt er, profitierten von den Leistungen der Familie. Aber denjenigen gegenüber, die familiale Verantwortung übernähmen, lasse man eine entsprechende Anerkennung vermissen. Die Rücksichtslosigkeit gegenüber neuen Generationen zeige sich an der Selbstverständlichkeit, mit der in Gesellschaft und Politik die Berufstätigkeit von Müttern kleiner Kinder propagiert werde, ohne negative Folgen für die Kleinen ernsthaft zu würdigen. Ebenso bezeichnend sei, dass man unsere extrem hohe Scheidungsquote achselzuckend hinnehme und dabei einschlägige Erkenntnisse über Entwicklungsstörungen von "Scheidungswaisen" in den Wind schlage. Es gebe nicht nur eine fortschreitende "Entväterlichung" junger Menschen, über die man schon seit Jahrzehnten rede, sondern inzwischen außerdem eine "Entmütterlichung" infolge der überforcierten Emanzipation der Frauen. Weil es der heutigen "Spaßgesellschaft" an Problembewusstsein fehle, bleibe die "öffentliche Empörung über das sozialschädigende Treiben" der "Erziehungssaboteure" in den Medienanstalten, der "Wertezerstörer und Erziehungsverhinderer" aus. Das falle besonders auf, weil es in anderen gesellschaftlichen Bereichen, etwa beim Umweltschutz, durchaus eine breite Empörungsbereitschaft gebe.

Die Folge aller dieser Fehlhaltungen sei eine zunehmende "Infantilisierung" in Deutschland, womit die Weigerung altersmäßig erwachsener Menschen gemeint sei, sich entsprechend zu verhalten. Ein Erwachsener müsse fähig und bereit sein, Verantwortung zu übernehmen, jungen Menschen Vorbild zu sein und daraus für die eigene Lebensführung Konsequenzen zu ziehen. Das setze notwendigerweise den Abschied von der eigenen Jugend, damit die gelassene, selbstverständliche Akzeptanz des Älterwerdens sowie ein Bemühen um Reifung voraus - was jungen Menschen signalisiere, dass sie ihrerseits noch unfertig, unreif seien und Lebenserfahrung und Urteilskraft anstreben müssten.

Damit Körper, Geist, Seele und Gemüt eines Jugendlichen sich gleichermaßen entwickeln, ausbilden könnten, sei ein Milieu erforderlich, das dem Kind Wärme und Geborgenheit, vielfältige Anregungen und die Erfahrung erfreulichen menschlichen Umgangs zuteil werden lasse. Entscheidend sei die Atmosphäre, in der ein Kind aufwachse. So sei nicht nur wichtig, was vor den Ohren eines Kindes gesagt werde, sondern auch, wie man es sage. Stattdessen nehme unsere gegenwärtige Spaßgesellschaft die verbreiteten Enttabuisierungen und Verblödungstendenzen widerstandslos hin. "Wie sollen in einer so gearteten Öffentlichkeit junge Menschen zu ,mündigen Bürgern' heranwachsen können, die sich durch ,öffentliche Tugenden' auszeichnen, wenn ständig gegen solche öffentlichen Tugenden verstoßen wird? Unsere Gesellschaft lebt in der gefährlichen Illusion, sie könne dauernde Attacken auf fundamentale Werte unserer Lebensordnung amüsiert hinnehmen, sie vielleicht sogar als ,Unterhaltung' genießen - ohne dass die Fundamente unserer Lebensordnung auf Dauer untergraben würden."

 

4. Engagement für den Vorrang des Kindeswohls in der Familienpolitik