4. Engagement für den Vorrang des Kindeswohls

 

in der Familienpolitik

In der "Erklärung der Rechte des Kindes" der Vereinten Nationen vom 20.9.1959 heißt es:

Diese Erklärung stellt für die Erwachsenen und insbesondere für die Politik eine Verpflichtung dar: nämlich die Verpflichtung zum Vorrang des Kindeswohls in der Familienpolitik. Von dieser Verpflichtung ist in der gegenwärtigen Familienpolitik jedoch nicht viel zu spüren. Denn das Bemühen um eine bessere Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Elternverantwortung hat absoluten Vorrang. Die Bedürfnisse der Kinder kommen darüber tendenziell zu kurz. Von ihnen ist in den familienpolitischen Debatten weitaus weniger die Rede als von den Problemen der Eltern, die sich aus der Koordination ihrer Berufstätigkeit und ihrer Verantwortung für die Kinder als Mütter und Väter ergeben. Kinder kommen in den familienpolitischen Debatten hauptsächlich als der "Betreuung" bedürftige Wesen vor: Kinder bringen ein "Betreuungsproblem" mit sich. Daraus entsteht als politische Aufgabe die Lösung der "Betreuungsfrage".

Da Kinder sich noch nicht selbst artikulieren und vertreten können, sind sie darauf angewiesen, daß Erwachsene ihre Bedürfnisse im politischen Kräftespiel hinreichend vertreten. Das setzt erstens die Kenntnis ihrer wirklichen, das heißt sich aus den Bedingungen einer erfolgreichen Persönlichkeitsentwicklung ergebenden Bedürfnisse voraus und zweitens die Bereitschaft, diese Bedürfnisse ernst zu nehmen und ihnen im Falle widerstreitender Interessen Vorrang vor anderweitigen Interessen, auch denen ihrer Eltern, einzuräumen. Deshalb brauchen Kinder Anwälte ihrer Interessen, die sie selbst noch nicht artikulieren können.

Die natürlichen Anwälte der Kinder sind eigentlich die Eltern. Die Erfahrung zeigt jedoch, daß Eltern heute in vielen Fällen diese anwaltliche Aufgabe gar nicht oder nicht hinreichend nachdrücklich wahrnehmen. Einerseits mangelt es vielen von ihnen an den erforderlichen anthropologischen Kenntnissen, um die Bedürfnisse der Kinder richtig einschätzen zu können; andererseits entscheiden viele Eltern in den sich unvermeidlich ergebenden Interessenkonflikten zu ihren Gunsten und damit gegen die objektiven Bedürfnisse der Kinder..

In der gegenwärtigen Familienpolitik ist es nicht anders. Dies ist gewiß nicht böser Wille, sondern in erster Linie Folge von Unkenntnis hinsichtlich der Bedürfnisse der Kinder. Wer über die erforderlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse verfügt und die familienpolitischen Debatten in unserer Gesellschaft verfolgt, stellt eine erschreckende anthropologische Ahnungslosigkeit in solchen Debatten fest.

Unsere Gesellschaft ignoriert weitestgehend wichtige Erkenntnisse der philosophischen Anthropologie und der Sozialisationsforschung über Bedingungen und Gefährdungen der Persönlichkeitsentwicklung im Kindesalter. Es handelt sich um Erkenntnisse, die im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts gewonnen wurden und der Öffentlichkeit im Prinzip seit Jahrzehnten gut aufbereitet zur Verfügung stehen. Sie sind aber bis heute nicht wirklich nachhaltig vom öffentlichen Bewußtsein rezipiert worden.

Verfolgt man die familienpolitischen Debatten, aber auch andere, themenverwandte Debatten in unserer Gesellschaft in einer von diesen Erkenntnissen bestimmten Perspektive, die ich der Kürze halber "sozialisationstheoretische Perspektive" nenne, so kommt man um die Feststellung nicht herum, daß sich diese Debatten – gemessen am Kenntnisstand der hier einschlägigen anthropologischen Wissenschaften – überwiegend durch eine schwer verständliche anthropologische Ignoranz "auszeichnen". Die Debatten werden geführt, als gäbe es die Erkenntnisse über die vollständige Ergebnisoffenheit des Prozesses der Persönlichkeitsentwicklung im Augenblick der Geburt sowie über die sich daraus ergebende "Riskanz" der Persönlichkeitsentwicklung überhaupt nicht.

Es dominiert in unserer Gesellschaft de facto – natürlich nicht explizit – noch immer eine quasi-naturwüchsige Vorstellung über den wichtigen Vorgang der Persönlichkeitsentwicklung: als ob es sich lediglich um die Entfaltung eines genetischen Programms handelte, so daß es nur eine Frage der Zeit wäre, bis aus dem neugeborenen Menschenkind eine reife Persönlichkeit, ein mündiger Bürger mit Handlungskompetenz, sozialer und moralischer Kompetenz geworden ist. Unsere Gesellschaft hat die wichtige Feststellung Arnold Gehlens, daß der Mensch ein "riskiertes" Lebewesen ist, versehen mit einer "konstitutiven Chance zu verunglücken", bis heute nicht wirklich "verinnerlicht". Sie glaubt offenkundig nicht wirklich daran, "daß Menschsein von der Wurzel her total mißlingen kann" (Joachim Illies).

Hätte unsere Gesellschaft solche Erkenntnisse, denen theoretisch nicht widersprochen werden kann und denen im Prinzip auch niemand widerspricht, wirklich beherzigt, dann würden die familienpolitischen Debatten völlig anders geführt.

Das Drama der Persönlichkeitsentwicklung in "sozialisationstheoretischer Perspektive"

In aller Kürze sei hier skizziert, wie sich das Drama der Persönlichkeitsentwicklung in sozialisationstheoretischer Perspektive darstellt. In dieser Perspektive ist die Persönlichkeitsentwicklung kein naturwüchsiger Vorgang im Sinne der Entfaltung eines genetischen Programms, sondern ein völlig ergebnisoffener Prozeß, der durch vielfältige Faktoren beeinflußt wird und auch mißlingen kann: partiell oder vollständig.

Das neugeborene Menschenkind bildet in sozialisationstheoretischer Perspektive einen "plastischen Organismus mit der Möglichkeit der Menschenwerdung". Für die Realisierung dieser Möglichkeit übernimmt die Natur selbst keine Gewähr. Nicht einmal den aufrechten Gang garantiert die Natur. Findet das junge Menschenkind in seiner Umgebung keine sich aufrecht bewegenden Lebewesen, also Menschen vor, so daß es keine Möglichkeit hat, den aufrechten Gang zu imitieren, wächst es zum Beispiel unter Tieren auf, so daß es nur vierbeinig sich fortbewegende "Vorbilder" hat, die es imitieren kann, so wird es sich auf allen Vieren fortbewegen und den aufrechten Gang nicht praktizieren. Und natürlich wird es das Sprechen nicht lernen, wenn es nicht von Menschen angesprochen wird und mit ihnen kommunizieren kann.

Außer durch eine nahezu unbegrenzte Plastizität zeichnet sich der "plastische Organismus mit der Möglichkeit der Menschwerdung" des neugebornen Menschenkindes durch

Die Kombination dieser Merkmale setzt den Sozialisationsprozeß in Gang und bewirkt gleichzeitig auch seine Ergebnisoffenheit.

Ein gelungener Persönlichkeitsentwicklungsprozeß mit dem Resultat einer reifen, handlungs- und verantwortungsfähigen Persönlichkeit ist also kein Naturresultat – wie das ausgewachsene Tier eines ist -, sondern ein Gesellschaftsresultat, genauer gesagt das Ergebnis eines höchst komplizierten und äußerst störanfälligen Prozesses der Prägung durch das gesellschaftlich-kulturelle Umfeld ("Sozialisationsmilieu") und der Auseinandersetzung mit diesem Umfeld.

Die fortschreitenden Erkenntnisse der Sozialisationsforschung, zu denen neuerdings auch die Hirnforschung und die Bindungsforschung zu rechnen sind, haben zur Folge gehabt, daß der Bedeutungsumfang des Begriffs "Plastizität" ständig weiter zunimmt. Auch das menschliche Gehirn wird von der neueren Hirnforschung als plastische Größe erkannt, die sich durch die Verarbeitung der jeweiligen umweltspezifischen Sinneseindrücke selbst organisiert und weiterentwickelt – oder aber verkümmert.

Erkenntnisse der Hirnforschung

Durch die fortschreitenden Erkenntnisse der Hirnforschung ist immer deutlicher geworden, daß auch das Großhirn des Menschen der nahezu unbegrenzten Plastizität des Menschen unterliegt. Es hat sich sogar als besonders plastisch erwiesen. Experten sehen aufgrund dieser Erkenntnisse im Großhirn die physiologische Grundlage des gesamten Sozialisationsprozesses. "Innerhalb der durch die Vererbung und die intrauterine Entwicklung festgelegten Grenzen ist das Leben des Menschen im Zeitpunkt seiner Geburt noch nach allen Seiten hin völlig offen. Eine Festlegung erfolgt erst durch unterschiedliche Ereignisse. Durch sie wird das Individuum unwiderruflich mehr oder weniger verschieden geprägt. Die Funktion des Großhirns besteht also offenbar darin, immer wieder eine plastische Anpassung an die wechselnden Gegebenheiten der Umwelt zu ermöglichen. Insofern bildet es die physiologische Grundlage eines lebenslangen Sozialisations-, Enkulturations- und Personalisationsprozesses des Menschen" (Ferdinand Oeter).

"Zwei der überraschendsten und grundlegendsten Entdeckungen der Hirnforschung besagen, daß das Gehirn sich mit Hilfe der Außenwelt selbst formt und daß es entscheidende Entwicklungsphasen durchläuft, in denen die Gehirnzellen auf bestimmte Arten der Reizbeeinflussung angewiesen sind, um überhaupt irgendwelche Fähigkeiten aufbauen zu können. Die Forscher sind zu der Ansicht gelangt, daß unsere Gene - die chemischen Entwurfsvorlagen des Lebens - zwar die grundlegende Struktur des Gehirns aufbauen, daß dann aber sogleich die Umwelt das Steuer übernimmt und für unsere individuelle Endausstattung sorgt. Ein klarer Fall von Arbeitsteilung: Die Gene stellen die Bauteile zur Verfügung, und die jeweilige Umgebung, die Erfahrungen geben wie ein Architekt die Anweisungen zur Endmontage" (Christa Meves).

Erkenntnisse der Bindungsforschung

Auch die noch relativ junge Bindungsforschung hat zu wichtigen Erkenntnissen über den Prozeß der Persönlichkeitsentwicklung und seine Anfälligkeiten für Störungen geführt. Insofern sind auch ihre Erkenntnisse der Sozialisationsforschung zuzuordnen. Die in den fünfziger und sechziger Jahren das 20. Jahrhunderts von dem Londoner Psychiater und Psychoanalytiker John Bowly (1907 - 1990) entwickelte Bindungstheorie besagt im Kern, daß der Mensch, ebenso wie eine Vielzahl anderer Lebewesen, ein biologisch angelegtes "Bindungssystem" besitzt. Es stellt nach Bowly "ein primäres, genetisch verankertes motivationales System dar, das zwischen der primären Bezugsperson und dem Säugling in gewisser biologischer Präformiertheit nach der Geburt aktiviert wird und überlebenssichernde Funktion hat". Es wird aktiviert, sobald eine äußere oder innere Gefahr auftaucht. Kann diese Gefahr aus eigenem Vermögen nicht behoben werden, wird das sogenannte 'Bindungsverhalten' ausgelöst. Ein kleines Kind wendet sich dann an seine Mutter oder seinen Vater, zu denen es eine ganz spezifische 'Bindung' aufbaut. In diese Bindungsbeziehung gehen seine Gefühle, Erwartungen und Verhaltensstrategien ein, die es aufgrund seiner Erfahrungen mit den wichtigsten Pflegepersonen entwickelt hat. Das sogenannte Bindungsmuster, das sich in Anpassung an diese während des ersten Lebensjahres ausprägt, wandelt sich im Laufe der Zeit, bleibt aber in seinen Grundstrukturen in den meisten Fällen relativ konstant.

"Für das unselbständige menschliche Neugeborene und Kleinkind ist die Person, die Schutz und Fürsorge gewährt, und die Bindung an sie von lebenserhaltender Bedeutung. Das Bedürfnis nach dem 'sicheren Hort und Hafen' oder - mit anderen Worten - nach einer zuverlässigen Bindungsperson, die in Gefahrensituationen Schutz und Hilfe gewährt, bleibt aber während des ganzen Lebens bestehen. Auch bei Erwachsenen wird in einer solchen Lage das in der frühen Kindheit ausgeprägte Bindungssystem aktiviert und löst schutzsuchendes Bindungsverhalten aus" (Lotte Köhler).

"Bindung" ist zu verstehen als ein emotionales Band, das sich während der Kindheit entwickelt, dessen Einfluß aber nicht auf diese frühe Entwicklungsphase beschränkt ist, sondern sich auf alle weiteren Lebensabschnitte erstreckt. Somit stellt Bindung eine emotionale Basis während des ganzen Lebens bis ins Alter hinein dar. Die Bindungstheorie gehört heute zu den durch empirische Längsschnittstudien am besten fundierte Theorie über die psychische Entwicklung des Menschen. Sie hat wesentlich zum Verständnis lebenslanger menschlicher Entwicklung beigetragen.

Bedeutung von Sicherheit und Geborgenheit

Die Erkenntnisse der Hirnforschung und der Bindungsforschung ergänzen sich zugleich in wichtigen Aspekten. So hat es sich gezeigt, daß es einen sehr direkten Zusammenhang gibt zwischen der emotionalen Sicherheit des Kindes als Resultat einer sicheren Bindung und der Entwicklung des Gehirns. "Jedes Kind ist einzigartig und verfügt über einzigartige Potentiale zur Ausbildung eines komplexen, vielfach vernetzten und zeitlebens lernfähigen Gehirns. Ob und wie es ihm gelingt, diese Anlagen zu entfalten, hängt ganz wesentlich von den Entwicklungsbedingungen ab, die es vorfindet, und von den Erfahrungen, die es während der Phase seiner Hirnreifung machen kann. Jedes Kind braucht ein möglichst breites Spektrum unterschiedlichster Herausforderungen, um die in seinem Gehirn angelegten Verschaltungen auszubauen, weiterzuentwickeln und zu festigen, und jedes Kind braucht das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, um neue Situationen und Erlebnisse nicht als Bedrohung, sondern als Herausforderung bewerten zu können. Beides gibt es nur in intensiven Beziehungen zu anderen Menschen, und es sind die frühen, in diesen Beziehungen gemachten und im kindlichen Hirn verankerten psychosozialen Erfahrungen, die seine weitere Entwicklung bestimmen und sein Fühlen, Denken und Handeln fortan lenken" (Gerald Hüther).

Plastizität und Formungsbedürftigkeit des Geistes und der Moralität

Von besonderer Bedeutung ist die Erkenntnis, daß die Plastizität und die daraus resultierende Formungsbedürftigkeit des Menschen auch seinen Geist, seine Moral und sein Gewissen mit umfaßt. Der Erziehungsbedürftigkeit des Menschen ist also keineswegs bereits Genüge getan, wenn er den aufrechten Gang, die Sprache und die elementaren Kulturtechniken beherrscht. Genauso wenig wie der aufrechte Gang oder eine Sprache, gehören Moral und Gewissen zur "Naturausstattung" des Menschen. Für all diese Eigenschaften bzw. Fähigkeiten bringt der Mensch lediglich die Voraussetzungen mit. Sie gehören zur "Naturausstattung", nicht aber ihre Verwirklichungen. Sie gehören zur Kultur des Menschen, die immer eine gesellschaftlich vermittelte ist: "Es ist eine der Grundeinsichten der Anthropologie und der Sozialwissenschaften, daß für die Entwicklung des Menschen und seiner Anlagen mindestens soviel von der Umwelt abhängt wie von seinen angeborenen Anlagen. Das gilt auch für das Gewissen". Das Gewissen von Menschen, die in "abträglicher Umgebung aufwachsen", kann "so wenig entwickelt sein, daß der Glaube begründet erscheint, es fehle ihnen das Gewissen überhaupt [...]. Nichts wäre verfehlter, als zu glauben, die in einer Gesellschaft allgemein geltenden sittlichen Standards seien angeboren. Das Gewissen wird, wie überhaupt der Geist des Menschen, durch die Gesellschaft geformt, in der er heranwächst" (Johannes Messner).

Mangelnde Beachtung dieser Erkenntnisse durch unsere Gesellschaft

Diese Erkenntnisse werden in unserer Gesellschaft kaum beachtet. Und doch enthalten sie den Schlüssel zum Verständnis mancher Gegenwartsprobleme, denen unsere Gesellschaft ziemlich ratlos gegenübersteht. Dabei denke ich in erster Linie an die dramatisch zunehmenden Persönlichkeitsentwicklungsschäden bei Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft. Auch bei der Erörterung der Ergebnisse der Pisa-Studie sollte man sich an diese Erkenntnisse erinnern, um den Irrglauben zu überwinden, man müsse diesen Ergebnissen in erster Linie mit erhöhten Bildungsinvestitionen begegnen. Die elementarste Voraussetzung für erfolgreiche Bildungsprozesse wird kaum erwähnt und diskutiert, weil sie noch immer als selbstverständlich gegeben unterstellt wird: wirklich bildungsfähige (das heißt zunächst einmal: schulfähige) junge Menschen. Als eine der entscheidenden Folgerungen aus den Ergebnissen der Pisa-Studie muß unsere Gesellschaft endlich zur Kenntnis nehmen, daß diese noch immer als gegeben fingierte Voraussetzung in einer ständig größer werdenden Anzahl von Fällen nicht gegeben ist.

Was die Ergebnisse der Bindungsforschung anbetrifft, so wird - jedenfalls von Fachleuten - zunehmend deutlicher erkannt, daß sie in unserer gegenwärtigen Gesellschaft von zentraler Bedeutung sind. Sie bieten nicht nur eine wichtige Perspektive in der Beurteilung der gesellschaftlichen Sozialisationsverhältnisse, sondern gleichzeitig auch zentrale Kategorien der Kritik derselben. Denn gerade die Bindungsforschungsergebnisse machen deutlich, daß unsere Gesellschaft ihren Kindern wichtige Entwicklungschancen vorenthält.

Göttinger Kongreß zu den Entwicklungschancen der Kinder in unserer Gesellschaft

Dieser Thematik war im November 2000 auf Initiative des Göttinger Hirnforschers Gerald Hüther ein Kongreß in Göttingen gewidmet unter dem Motto: "Im Teufelskreis der Selbstbezogenheit - Kinder ohne Entwicklungschancen". Auf ihm wurden einerseits wichtige Erkenntnisse der Bindungsforschung und der Hirnforschung vorgetragen, und andererseits wurde die Frage erörtert, wie es um die Chancen einer gelingenden kindlichen Entwicklung in unserer Gesellschaft bestellt sei und woran es liege, daß die Rezeption wichtiger anthropologischer Erkenntnisse durch die Gesellschaft nicht erfolgt.

Als einer der Hauptgründe wurde die nicht geklärte Zuständigkeit in Gesellschaft und Staat für die Entwicklungsbedingungen der Kinder herausgestellt. Es wurde die mangelnde Rezeption dieser Erkenntnisse durch die Öffentlichkeit und als Folge daraus die mangelnde Rücksichtnahme unserer Gesellschaft auf Sozialisationsgesichtspunkte beklagt. Dies werde bereits an der mangelnden Klärung der Zuständigkeit und Verantwortlichkeit für die Persönlichkeitsentwicklungsbedingungen der Kinder und Jugendlichen in unserer Gesellschaft deutlich.

In allen möglichen Bereichen, in Bildung, Kultur, selbst im Sport seien in unserer arbeitsteiligen Gesellschaft Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten geregelt. Aber für den Aufbau sicherer Bindungen bei Kindern sei niemand richtig zuständig und niemand wirklich verantwortlich. "Kinder haben auf ihrer Suche nach emotionaler Geborgenheit keine Lobby. Wenn überhaupt, so werden ihre Hilferufe erst dann wahrgenommen, wenn sie [...] sie auffällig, vielleicht sogar schon straffällig geworden sind, geraten sie ins Blickfeld des öffentlichen Interesses. Dann fragen sich die Eltern, was sie möglicherweise falsch gemacht haben. Dann suchen die Erzieher und Lehrer nach Lösungen. Dann beginnen Erziehungswissenschaftler und Soziologen sich intensiver mit Lernstörungen, Verhaltensauffälligkeiten und anderen Defiziten zu beschäftigen. Dann muß auch der wachsenden Gewaltbereitschaft und der zunehmenden Kinder- und Jungendkriminalität mit polizeilichen und juristischen Mitteln Einhalt geboten werden, und irgendwann beginnt sogar die Wirtschaft, den Mangel an hochmotiviertem und gut ausgebildetem Nachwuchs zu beklagen und rasche Änderungen zu fordern. Spätestens dann werden auch die Politiker wach. Aber alles, was sie bis zur nächsten Wahl tun können, ist mit klugen Reden und viel Aktionismus den Eindruck zu erwecken, sie hätten das Problem erkannt und alles im Griff. Symptomatische Behandlung heißt das in der Medizin, 'Herumdoktern' nennt es der Volksmund, wohl wissend, daß man eine Krankheit nicht dadurch heilen kann, daß man ihre Symptome unterdrückt, sondern nur dadurch, daß man die Ursachen dieser Störungen sucht und - wenn man sie gefunden hat - auch behebt" (Karl Gebauer / Gerald Hüther).

"Ohne Sicherheit bietende Beziehungen entwickeln Kinder keine sicheren Bindungen, und ohne sichere Bindungen können sich Kinder nicht zu eigenständigen, sozial kompetenten und verantwortlichen Persönlichkeiten entwickeln", wurde auf dem Göttinger Kongreß erklärt.

Anthropologische und humanwissenschaftliche Aufklärung der Öffentlichkeit erforderlich

Wenn die wirklichen Bedürfnisse der Kinder, die natürlich keine subjektiv von ihnen empfundenen, sondern objektive, sich aus den menschlichen Existenzbedingungen (condition humaine) ergebenden Bedürfnisse sind, in den familienpolitischen Debatten unsere Landes so erschreckend wenig berücksichtigt werden, so ist dies natürlich nicht Ausdruck bösen Willens, nicht einmal primär von Gleichgültigkeit, sondern von Unkenntnis. Obwohl die entscheidenden wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Bedingungen und Gefährdungen einer erfolgreichen Persönlichkeitsentwicklung der Öffentlichkeit seit Jahrzehnten gut aufbereitet zur Verfügung stehen, sind sie bis heute nicht wirklich nachhaltig vom öffentlichen Bewußtsein rezipiert worden, jedenfalls nicht in dem Sinne, daß sie sich in den einschlägigen Debatten diese maßgeblich bestimmend wiederfänden. Vielmehr werden diese Debatten überwiegend geführt, als gäbe es diese Erkenntnisse überhaupt nicht. Anthropologische Ignoranz ist ihr entscheidendes Merkmal.

Dies muß sich im Interesse unserer Kinder (die ohnehin immer weniger werden), aber auch im Interesse der Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft dringend ändern! Unsere Gesellschaft hat noch immer nicht wirklich erkannt, daß und wie sehr ihre Zukunftsfähigkeit gerade auch dadurch gefährdet wird, daß in einer ständig größer werden Anzahl von Fällen die Persönlichkeitsentwicklung des gesellschaftlichen Nachwuchses nicht hinreichend gelingt. Soweit die Bildungsabschlüsse des Nachwuchses nicht zufriedenstellend gelingen (Stichworte Pisa-Schock, Schulabbrecher, fehlende Schulabschlüsse, Lehrstellen- und Studienabbrüche) wird die sich daraus ergebende Gefährdung der Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft inzwischen erkannt und thematisiert. Kaum erkannt und thematisiert werden dagegen bis heute die sich aus defizitärer Persönlichkeitsentwicklung des gesellschaftlichen Nachwuchses ergebenden Belastungen für die gesamte Gesellschaft und ihre Zukunftsfähigkeit. Die Folgen fehlenden Nachwuchses sind erkannt und werden inzwischen intensiv diskutiert. Die Folgen mißlingender Persönlichkeitsentwicklung des (ohnehin viel zu geringen) Nachwuchses werden dagegen kaum thematisiert. Sie sind wohl überhaupt noch nicht ins öffentliche Problembewußtsein eingedrungen. Oder aber sie werden tabuisiert. Beides ist gleichermaßen verhängnisvoll. Noch immer geht unsere Gesellschaft geradezu naiv davon aus, daß die Geburtenrate von geradezu schicksalhafter Bedeutung ist. Deshalb ist sie fixiert auf die Frage nach den Möglichkeiten ihrer Steigerung. Dabei übersieht sie nahezu vollkommen, daß Kinder, deren Persönlichkeitsentwicklung so gravierend mißlingt, daß sie als Erwachsene eher auf die Solidarität der Gesellschaft angewiesen sind, als daß sie verantwortungsvolle Aufgaben in ebendieser Gesellschaft übernehmen können, für die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft keinen Gewinn, sondern eine Belastung darstellen. Deshalb muß der Gesichtspunkt gelingender Persönlichkeitsentwicklung und ihrer Voraussetzungen mindestens die gleiche öffentliche Aufmerksamkeit finden wie die Geburtenrate und Möglichkeiten ihrer Steigerung.

In dieser Hinsicht gibt es in unserer Gesellschaft ein schwerwiegendes, kaum begreifliches Bewußtseinsdefizit. Es muß dringend durch intensive anthropologische und humanwissenschaftliche Aufklärung behoben werden! Hier hätten die Medien eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, die sie bis heute leider nicht erkannt haben.

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Die Tagespost vom 06.07.2006

Kinder brauchen Zuwendung

Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist noch nicht wirklich gelöst

Familienpolitik achtet mit Betreuungsangeboten das Wohl der Jüngsten zu wenig

Von Johannes Schwarte

Die Bundesregierung der Großen Koalition will der Familienpolitik einen hohen Stellenwert verleihen. Sie erklärt in ihrer Stellungnahme zum jüngst erschienenen Siebten Familienbericht, die Familie "vom Rand in das Zentrum des öffentlichen Interesses" holen zu wollen. Zentrales Ziel ist eine bessere Vereinbarkeit von außerhäuslicher Berufstätigkeit und Elternschaft, um besonders Müttern von kleinen Kindern eine Berufstätigkeit zu ermöglichen. Deshalb hat sich die Bundesregierung zum Ziel gesetzt, "die Betreuung für die unter Dreijährigen auszubauen".

Zwar versichert sie, "gleiche Chancen der Geschlechter und gute Entwicklungschancen für alle Kinder", seien "gleichermaßen wesentliche Leitziele" ihrer Familienpolitik. Aber in Wahrheit nimmt sie eine Vernachlässigung des Kindeswohls dafür in Kauf. Das bedeutet, dass die Bedürfnisse der Kinder hinter die Berücksichtigung der Berufstätigkeitswünsche ihrer Mütter zurücktreten müssen.

Das Gewicht dieser Feststellung ergibt sich erst durch Klärung der Begriffe "Kindeswohl" und "kindliche Bedürfnisse". Unter letzteren sind keine subjektiv vom Kind selbst empfundene und "angemeldete" Bedürfnisse zu verstehen, sondern anthropologische. Sie ergeben sich aus den Bedingungen des Menschwerdens und Menschseins (conditio humana/condition humaine) und sind "zeitlos". Sie unterliegen weder einem historischen Wandel, noch können sie sich den anders gearteten Bedürfnissen der Eltern, etwa ihren Emanzipations- oder Freizeitbedürfnissen, anpassen.

Welche Bedürfnisse sind gemeint? Zeit, Zuwendung, Zärtlichkeit brauche das Kind, um sich optimal entwickeln zu können, erkannte Johann Heinrich Pestalozzi (1746 - 1827) bereits zu seiner Zeit und mit seinen Erkenntnismitteln der intensiven Beobachtung und des Vergleichens - ohne auf die Ergebnisse moderner, weltweiter Sozialisationsforschung, Bindungsforschung und Hirnforschung zurückgreifen zu können, die ihn vollauf bestätigen. In der "Erklärung der Rechte des Kindes" der Vereinten Nationen von 1959 heißt es: "Das Kind bedarf zur vollen und harmonischen Entwicklung seiner Persönlichkeit der Liebe und des Verständnisses. Es muss möglichst in der Obhut und unter der Verantwortung seiner Eltern, immer aber in einer liebevollen, moralische und materielle Sicherheit bietenden Umgebung aufwachsen. Im zarten Alter darf das Kind nicht von seiner Mutter getrennt werden, außer durch ungewöhnliche Umstände."

Will die Bundesregierung nicht behaupten, es seien heute durchgängig für alle Mütter solche "ungewöhnlichen Umstände" gegeben, so dass die Propagierung einer Berufstätigkeit von Müttern kleiner Kinder gerechtfertigt sei, so muss sie sich vorhalten lassen, mit ihrer Familienpolitik hinter einer bereits 1959 von den Vereinten Nationen deklarierten Richtlinie zurückzubleiben. Das Gewicht dieser Vorhaltung erhöht sich noch durch den Hinweis auf den enormen Zuwachs an Erkenntnissen in den oben erwähnten Wissenschaften seit Ende der fünfziger Jahre, so dass wir heute noch viel besser über die Bedürfnisse des Kindes informiert sind oder sein müssten, um noch genauer wissen zu können, was der frühkindlichen Entwicklung schadet und was ihr förderlich ist.

Der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz, bekannt durch seine Analyse "charakterdeformierender Auswirkungen" der kollektiven Kinderbetreuung in der DDR, hat unter Berücksichtigung humanwissenschaftlicher Erkenntnisse im vergangenen Jahr ein Buch über "Mutterschaftsstörungen" veröffentlicht, in dem er eine Reihe von "Mütterlichkeits-Anforderungen" formuliert. Darunter versteht er Erwartungen an Mütter aus der Perspektive des Kindes, die für die frühe Entwicklung von entscheidender Bedeutung sind: die Anwesenheit der Mutter (nicht nur räumlich, sondern in "qualitativer Präsenz", so dass das Kind seine Mutter im Bedarfsfall wirklich erreichen kann), ihre Einfühlung (Empathie), ihre Befriedigungsfähigkeit (nicht nur im Hinblick auf Nahrung, sondern im Sinne einer "prinzipiellen Fähigkeit zu geben, also auch Wärme, Schutz, Sicherheit, Ermutigung und Trost"), ferner ihre "realitätsgerechte Begrenzung" und schließlich ihre "Hilfsfähigkeit zur emotionalen Verarbeitung von unangenehmen wie lustvollen Erfahrungen".

Werden diese Mütterlichkeits-Anforderungen nicht oder nicht hinreichend erfüllt, erleidet das Kind Störungen in seiner Persönlichkeitsentwicklung, "frühe Störungen" genannt, die sich oft erst im Erwachsenenalter bemerkbar machen und sich auch gesamtgesellschaftlich auswirken, wenn diese Störungen so gehäuft auftreten, dass daraus eine "pathologische ,Normalität" (Maaz) wird. Der Biologe und Sozialisationsforscher Bernhard Hassenstein, Verfasser einer "Verhaltensbiologie des Kindes", stellt fest: "Heute kann kein Zweifel mehr bestehen: Persönlichkeitsschäden, wie sie durch bindungsloses Aufwachsen eines kleinen Kindes oder durch mehrmalige Bindungsabbrüche entstehen, beeinträchtigen die Chancen im späteren Leben so stark oder stärker als die schlimmsten sozialen und psychischen Benachteiligungen des späteren Lebens. Aus dieser Tatsache leitet sich der Anspruch eines jeden Kindes auf eine bleibende betreuende Person her, ein Recht auf Familie."

Damit wird deutlich, wie störanfällig der frühkindliche Entwicklungsprozess ist und dass dabei noch erheblich mehr auf dem Spiel steht als "nur" das individuelle Schicksal des jeweiligen Kindes. Es geht mit jedem einzelnen Kind immer auch um ein Stück gesellschaftlicher Zukunftsfähigkeit: um die Frage nämlich, ob die Gesellschaft durch das Gelingen seiner Persönlichkeitsentwicklung einen wirklichen Zuwachs an Lebenskompetenz und damit an Überlebenssicherung erfährt - oder ob ihr durch das Misslingen dieses Prozesses weitere Belastung zuwächst, die die Solidargemeinschaft strapaziert. Daraus beziehen diejenigen, die einen Vorrang des Kindeswohls in der Familienpolitik fordern, ihre entscheidende Begründung.

Die hier nur kurz skizzierten humanwissenschaftlichen Erkenntnisse finden im Siebten Familienbericht keine Beachtung. Das Kind tritt dort erst in Erscheinung, wenn die öffentliche Förderung einsetzen soll. Ausgeblendet bleibt die einer Förderung vorausgehende wichtige frühkindliche Phase einer elementaren Persönlichkeitsentwicklung. In ihr geht es um grundlegende Persönlichkeitsmerkmale wie Urvertrauen, Bindungssicherheit, Selbstvertrauen, Ich- Stärke, Konzentrationsfähigkeit, geistige Wachheit, Interessiertheit ("Wißbegierde"), Hingabefähigkeit an eine "Sache" und weitere persönlichkeitsentwicklungsbedingte Voraussetzungen für eine erfolgreiche Förderung. Sie sind Resultat der frühkindlichen Entwicklung und Prägung durch intensives Zusammenleben mit wirklich kindzugewandten Eltern, insbesondere mit der Mutter.

Von der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes, von der Störanfälligkeit und Ergebnisoffenheit dieses komplizierten Prozesses, dieses Dramas mit ungewissem Ausgang, ist bezeichnenderweise nirgendwo die Rede. Aus der Perspektive des Kindeswohls können die familienpolitischen Zielsetzungen daher nur als herzlos und kindvergessen bezeichnet werden. Aus der Perspektive anthropologischer und humanwissenschaftlicher Erkenntnisse über Bedingungen einer optimalen Persönlichkeitsentwicklung und Faktoren ihrer Gefährdung sind sie ein Hohn. Kinder treten im argumentativen Kontext der aktuellen Familienpolitik primär als Problemverursacher in Erscheinung. Familienpolitik nach den Vorstellungen der Bundesregierung wäre viel einfacher, wenn es keine Kinder gäbe. Dass es ohne Kinder auch keine Familien gäbe und Familienpolitik dann ebenfalls überflüssig wäre, steht auf einem anderen Blatt.

Dabei weiß natürlich auch die Bundesregierung, daß Kinder erforderlich sind, um die Zukunft der Gesellschaft zu gewährleisten. Deshalb kann sie in ihrer Familienpolitik die Kinder nicht einfach ausblenden (obwohl sie dadurch viel einfacher würde). Da die Kinder also in den Blick genommen werden müssen und man andererseits um jeden Preis an der primären familienpolitischen Zielsetzung festhalten will, dass Mütter bald nach der Geburt eines Kindes wieder in den Beruf zurückkehren können sollen, treten die Kinder in einer solchen Konzeption naturgemäß als Problemverursacher, um nicht zu sagen als Störenfriede auf.

Problemverursacher sind die Kinder in einer solchen Konzeption deshalb, weil man sie nicht einfach "ruhigstellen" und unbeaufsichtigt lassen kann, während beide Eltern ihrer Berufstätigkeit nachgehen. Sie müssen "beaufsichtigt" und "betreut" werden. Das ist das große Problem der aktuellen Familienpolitik: dass Kinder "Betreuung" brauchen. Mehr brauchen sie allerdings anscheinend auch nicht. Von Zuwendung etwa - die etwas grundlegend anderes ist als Betreuung - ist nirgendwo die Rede. Kinder sind in der familienpolitischen Konzeption der Bundesregierung Verursacher eines zu lösenden "Betreuungsproblems". Sie werfen die "Betreuungsfrage" als großes und im Grunde einziges Problem auf. Sobald die "Betreuungsfrage" durch Errichtung von genügend "Betreuungseinrichtungen" beantwortet sein wird, ist für die Bundesregierung die Welt der Familie in Ordnung.

In Wahrheit ist sie keineswegs in Ordnung. Nicht nur für die Kinder, sondern für die gesamte Gesellschaft wird sich der immer deutlicher werdende familienpolitische Trend verhängnisvoll auswirken, weil er mit erschreckender anthropologischer Blindheit geschlagen ist. Es muss damit gerechnet werden, dass unsere Gesellschaft die Folgen dieser politisch verordneten Mutterentbehrung ihres Nachwuchses massiv zu spüren bekommen wird. Bereits jetzt weist nach Urteilen von Kinderärzten und Kinderpsychologen etwa ein Viertel der Kinder in Deutschland bei der Einschulung so schwerwiegende Persönlichkeitsentwicklungsstörungen auf, dass sie im Prinzip nicht schul- und bildungsfähig sind. Zu befürchten ist, dass diese Zahl weiter ansteigen wird. Das bedeutet, dass auch die Zahl der Mitglieder unserer Gesellschaft mit unzulänglichen Bildungsabschlüssen und erheblich eingeschränkter Lebenskompetenz steigen wird.

Angesichts der extrem niedrigen Geburtenrate hierzulande ist dieser familienpolitische Kurs auf Kosten der Persönlichkeitsentwicklungschancen des Nachwuchses geradezu absurd. Statt alles daranzusetzen, dass die geborenen Kinder - dieses derzeit knappste "Gut" unserer Gesellschaft - optimale Persönlichkeitsentwicklungsbedingungen vorfinden, macht sich die Politik daran, suboptimale Persönlichkeitsbedingungen zu schaffen und für lange Zeit zu zementieren, denkt man an die vorgesehenen Milliarden-Investitionen in "Betreuungseinrichtungen" verschiedener Art.

Zwar hat inzwischen ein Nachdenken darüber begonnen, wie die Geburtenrate sich steigern ließe, um den Trend zur Überalterung der Gesellschaft zu stoppen. Aber noch immer unterstellt unsere Gesellschaft und auch die Politik mit unbegreiflicher Naivität angesichts der sich häufenden Persönlichkeitsentwicklungsschäden bei Kindern, dass eine steigende Geburtenrate zwangsläufig auch einen entsprechenden Zuwachs an lebenskompetenten Erwachsenen ergibt. Ignoriert wird, dass bereits heute die Zahl der Gesellschaftsmitglieder erschreckend hoch ist, die aufgrund ihrer Persönlichkeitsentwicklungsschäden keine volle Lebenskompetenz erlangen können und infolgedessen lebenslang auf die Solidarität der Solidargemeinschaft angewiesen sein werden. Da bleibt nur noch die Frage, wie soviel Blindheit möglich ist.

Die Antwort auf diese Frage lautet, dass sie aus anthropologischer Ignoranz in der familienpolitischen Debatte resultiert. Auch in den Debatten zur Bildungspolitik, zu den Ursachen der Kinder- und Jugendkriminalität sowie der rechts- und linksextremistischen Gewalttaten macht sie sich bemerkbar. All diese Debatten werden geführt, als gäbe es die Erkenntnisse über den völlig ergebnisoffenen und sehr störanfälligen Prozess der frühkindlichen Entwicklung nicht. Diese wichtigen Erkenntnisse über die vielfältigen Möglichkeiten von Fehlentwicklungen werden ebensowenig ernstgenommen wie die sich häufenden Phänomene von Persönlichkeitsentwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Man kann die Erkenntnisse in dem Satz zusammenfassen, daß es sich bei der frühkindlichen Entwicklung um ein Drama mit ungewissem Ausgang handelt, weil der Mensch ein "riskiertes Lebewesen" ist, ausgestattet mit der "konstitutionellen Chance zu verunglücken" (Arnold Gehlen), so "dass Menschsein von der Wurzel her total misslingen kann" (Joachim Illies).

Die anthropologische Ignoranz gefährdet gegenwärtig in erheblichem Maße die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Sie verhindert, dass eine der entscheidenden Ursachen der gegenwärtigen Krise erkannt und angemessen bekämpft werden kann. Deshalb wäre eine anthropologische Aufklärung im Sinn einer intensiven öffentlichen Propagierung wichtiger anthropologischer und humanwissenschaftlicher Erkenntnisse dringend geboten. Hier läge ein wichtiges Aufgabenfeld für die Medien und höheren Schulen. Eine anthropologische Grundbildung müsste integraler Bestandteil einer elementaren Allgemeinbildung werden. Unsere Gesellschaft dürfte es nicht weiterhin dem Zufall überlassen, ob junge Eltern über derartige Elementarkenntnisse verfügen, um wenigstens eine Ahnung zu bekommen, in welchem Entwicklungsstadium ihr Kind geboren wird, wie störanfällig insbesondere das erste Lebensjahr ihres Kindes ist und wie vielfältig die Faktoren sind, die das Ergebnis des prinzipiell ergebnisoffenen Persönlichkeitsentwicklungsprozesses beeinflussen. Zur anthropologischen Ignoranz ist auch die naive Annahme zu rechnen, dass Elternfähigkeit sich ebenso naturwüchsig einstelle wie die Zeugungs- oder Gebärfähigkeit des jungen Menschen. Elternkompetenz müsste ein Ziel der schulischen Bildung und selbstverständlicher Bestandteil einer elementaren Allgemeinbildung werden.

Die dringend gebotene anthropologische Aufklärung müsste zentral bedeutsame Erkenntnisse der erwähnten Wissenschaften umfassen. Dabei handelt es sich erstens um Erkenntnisse über den Geburtszustand des Menschen "natürliche Frühgeburt" (Adolf Portmann); zweitens um Erkenntnisse über die völlige Ergebnisoffenheit und "Riskanz" des Persönlichkeitsentwicklungsprozesses sowie um die Möglichkeit tiefgreifender Störungen bis hin zum völligen Misslingen; drittens um Erkenntnisse über die Unvermeidbarkeit des gesellschaftlichen Einflusses auf den Prozess der Menschwerdung des Menschen sowie über die ausschlaggebende Bedeutung der Beschaffenheit des gesellschaftlichen Milieus (Sozialisationsmilieus) für die Resultate dieses Prozesses; viertens um Erkenntnisse der Bindungsforschung über die lebenslange Bedeutung einer stabilen Mutter-Kind-Beziehung; fünftens um Erkenntnisse der Hirnforschung über die Plastizität des Gehirns und die Beeinflussung der frühkindlichen Hirnentwicklung durch das Sozialisationsmilieu; sechstens um Erkenntnisse der Moralisationsforschung über den Prozess der Aneignung von Werten, der Entwicklung einer individuellen Moralität und eines persönlichen Gewissens im Verlauf des Sozialisationsprozesses.

Würden diese Erkenntnisse Bestandteil des öffentlichen Bewusstseins werden, so würde der dann unausbleibliche anthropologische Bewusstseinswandel zwangsläufig zu einer anderen Beurteilung der Berufstätigkeit von Müttern kleiner Kinder führen. Würden junge Frauen als Mütter in einem durch Bewusstseinswandel veränderten öffentlichen Klima hohe Wertschätzung und Rücksichtnahme - vor allem bei der Wiedereingliederung ins Berufsleben - erfahren, so würde es ihnen leichter fallen, wenn es nicht gar selbstverständlich würde, ihre Berufstätigkeit für einige Jahre zu unterbrechen, um den "Mütterlichkeits-Anforderungen" ihrer kleinen Kinder vollauf entsprechen zu können. Ein solcher Klimawandel würde wohl auch bewirken, dass mehr junge Paare als gegenwärtig den Mut fänden, ihren Kinderwunsch zu realisieren.

Noch einschneidender wären die Folgen, wenn es eines Tages gelänge, die "Mutterentbehrungsschäden" kleiner Kinder sichtbar zu machen und zu verobjektivieren wie andere körperliche Befindlichkeiten, etwa die Temperatur. Eine solche Möglichkeit würde die gegenwärtige, großenteils ideologisch befrachtete Diskussion über das Pro und Contra einer Berufstätigkeit von Müttern kleiner Kinder - "Rabenmutter" contra "Heimchen am Herd" - schlagartig beenden. Weil und solange es diese Möglichkeit eines objektiven und unbezweifelbaren Nachweises von "Mutterentbehrungsschäden" nicht gibt, sollten sich alle, die Verantwortung für die Persönlichkeitsentwicklungsbedingungen kleiner Kinder in unserer Gesellschaft tragen - Eltern, Erzieher, Lehrer, Politiker - verpflichtet fühlen, einschlägige wissenschaftliche Erkenntnisse ernst zu nehmen - auch und vor allem dann, wenn sie die eigene vorgefasste Meinung in Frage stellen.

Es bleibt zu hoffen, dass der erforderliche Bewusstseinswandel einen breiten gesellschaftlichen Konsens darüber herbeiführt, dass eine Familienpolitik, die auf Mutterentbehrung kleiner Kinder hinausläuft, nicht nur gegen das Kindeswohl verstößt, weil Kindern optimale Persönlichkeitsentwicklungsbedingungen verweigert werden, sondern zugleich auch die Zukunftsfähigkeit des Landes gefährdet.

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Die Tagespost vom 24.08.2006

Plädoyer für anthropologische Aufklärung

Von Johannes Schwarte

 

Öffentliche Debatten in unserer Gesellschaft, in denen es - zumeist implizit - um die Frage nach dem Menschen und dann insbesondere um die Voraussetzungen gelingender Menschwerdung des Menschen im Prozeß seiner Sozialisation geht, kümmern sich vielfach zu wenig um wichtige Erkenntnisse über den Menschen, die im Laufe des 20. Jahrhunderts gewonnen worden sind. Gemeint sind insbesondere Erkenntnisse der philosophischen Anthropologie, der Sozialisationsforschung, der Moralisationsforschung, der Bindungsforschung und der Hirnforschung.

Anthropologische Ignoranz öffentlicher Debatten

Debatten, in denen die erwähnten Erkenntnisse von zentraler Bedeutung sind, werden vielfach geführt, als gäbe es sie nicht. Anthropologische Ignoranz ist ihr Hauptmerkmal. Dies gilt für Debatten zu den Ursachen der Kinder- und Jugendkriminalität ebenso wie für die zu den Ursachen der sich häufenden Persönlichkeitsentwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen sowie zu den tieferliegenden Ursachen der PISA-Misere. Neuerdings gilt dies insbesondere für die familienpolitische Debatte, soweit sie sich um die Frage der Vertretbarkeit einer Berufstätigkeit von Müttern kleiner Kinder sowie um die "Betreuungsmöglichkeit" der Kinder dreht.

Wer diese Debatten in der Perspektive der erwähnten Erkenntnisse verfolgt, muß den Eindruck gewinnen, daß im öffentlichen Bewußtsein unserer Gesellschaft - all diesen Erkenntnissen zum Trotz - da facto (natürlich nicht ausdrücklich) noch immer eine quasi-naturwüchsige Vorstellung über den Prozeß der Persönlichkeitsentwicklung dominiert: als ob es sich dabei - wie beim Wachstum des Tieres - lediglich um die Entfaltung eines genetischen Programms handelte, so daß es nur eine Frage der Zeit wäre, bis aus dem neugeborenen Menschenkind ein reifer, erwachsener, humaner Mensch geworden ist, ein mündiger Bürger im demokratischen Staat, ausgestattet mit beruflicher, sozialer, staatsbürgerlicher und moralischer Kompetenz, fähig und bereit zur Übernahme von privater und öffentlicher Verantwortung. Obwohl gegenwärtig für etwa ein Viertel der nachwachsenden Generation zu prognostizieren ist, daß sie diesen Entwicklungsstandard, der dem Menschenbild unseres Grundgesetzes entspricht, nicht oder nur sehr eingeschränkt erreichen werden, hält die öffentliche Debatte weiter an der Fiktion fest, jede Steigerung der Geburtenrate garantiere gleichzeitig einen Zuwachs an Kompetenz im oben definierten Sinn. Sie nimmt nicht zur Kenntnis, daß der Gesellschaft durch die zunehmenden Persönlichkeitsentwicklungsstörungen gegenwärtig erhebliche Belastung zuwächst, so daß die Solidargemeinschaft weiter strapaziert wird. Diese Realitätsblindheit ist Folge einer anthropologischen Ignoranz, die solche Fehlentwicklungen nicht einkalkulieren kann, weil sie aufgrund einer naiven, vorwissenschaftlichen - naturwüchsigen - Vorstellung über den Persönlichkeitsentwicklungsprozeß nicht ernsthaft und konsequent mit der Möglichkeit rechnet, "daß Menschsein von der Wurzel her total mißlingen kann" (Joachim Illies).

Anthropologische Aufklärung als dringendes Erfordernis

Diese anthropologische Ignoranz gefährdet gegenwärtig in erheblichem Maße die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft, weil sie eine der entscheidenden Ursachen der gegenwärtigen Krise nicht erkennen und somit auch nicht angemessen auf sie reagieren kann. Deshalb ist ihre Überwindung durch anthropologische Aufklärung im Sinn einer intensiven öffentlichen Propagierung wichtiger anthropologischer und humanwissenschaftlicher Erkenntnisse dringend erforderlich. Hier liegt ein wichtiges Aufgabenfeld für die Medien, aber auch für die höheren Schulen. Eine anthropologische Grundbildung müßte integraler Bestandteil einer elementaren Allgemeinbildung werden. Unsere Gesellschaft dürfte es nicht weiterhin dem Zufall überlassen, ob junge Eltern über derartige Elementarkenntnisse verfügen, um wenigstens eine Ahnung davon haben zu können, in welchem Entwicklungsstadium ihr Kind geboren wird, wie störanfällig insbesondere das erste Lebensjahr ihres Kindes ist und wie vielfältig die Faktoren sind, die das Ergebnis des prinzipiell ergebnisoffenen Persönlichkeitsentwicklungsprozesses beeinflussen. Zur anthropologischen Ignoranz unserer Öffentlichkeit ist auch die naive Annahme zu rechnen, daß sich Elternfähigkeit ebenso naturwüchsig einstelle wie die Zeugungs- bzw. Gebärfähigkeit des jungen Menschen. Elternkompetenz müßte Ziel der schulischen Bildung und selbstverständlicher Bestandteil einer elementaren Allgemeinbildung sein. In den USA hat sich innerhalb der Sozialisationsforschung eine Sonderdisziplin entwickelt, die sich der Erforschung "biographiezerstörender Lebensweisen" widmet. Sie orientiert sich an drei Kategorien einer gelungenen Sozialisation: elterliche, berufliche und staatsbürgerliche Kompetenz (in dieser Reihenfolge). Von einer solchen Betrachtungsweise ist die deutsche Öffentlichkeit noch weit entfernt. Hier sind ein Bewußtseinswandel und eine Neuakzentuierung unseres Bildungsverständnisses dringend erforderlich.

Inhalte einer erforderlichen anthropologischen Aufklärung

Die dringend gebotene anthropologische Aufklärung müßte zentral bedeutsame Erkenntnisse der erwähnten Wissenschaften umfassen. Es geht dabei um Erkenntnisse über den Geburtszustand des Menschen, über die Ergebnisoffenheit und "Riskanz" des Persönlichkeitsentwicklungsprozesses sowie über die gesellschaftliche Bedingtheit dieses Prozesses; ferner um Erkenntnisse der Bindungsforschung über die Bedeutung einer stabilen Mutter-Kind-Beziehung, um Erkenntnisse der Hirnforschung über die Plastizität des Gehirns und die Beeinflussung der frühkindlichen Hirnentwicklung durch das Sozialisationsmilieu sowie schließlich um Erkenntnisse der Moralisationsforschung über den Prozeß der Aneignung von Werten, der Entwicklung einer individuellen Moralität und eines persönlichen Gewissens im Verlauf des Sozialisationsprozesses.

Verglichen mit Tieren etwa gleicher Entwicklungsstufe wird der Mensch "zu früh" geboren. Er kommt als "natürliche Frühgeburt" zur Welt. Seine Geburt bedeutet eigentlich noch nicht das Ende der Schwangerschaft, sondern sie kommt sie einem "Uterus-Austausch" gleich: Der biologische Uterus wird gegen den "sozialen Uterus" (Familie) ausgetauscht. Die Schwangerschaft dauert im ersten Lebensjahr, dem "extra-uterinen Frühjahr", im Prinzip je-doch noch fort (Adolf Portmann). Deshalb ist der Mensch im ersten Lebensjahr hochgradig in seiner Entwicklung gefährdet, da er "noch nicht zuende geboren ist" (Portmann). Aus diesem Grund braucht er für eine gelingende Entwicklung ein Maß an "Bergung" und Geborgenheit, wie es der biologische Uterus von Natur aus bietet. Deshalb sind alle Einwirkungen auf das Kind (insbesondere auch durch Lärm und optische Reize wie etwa Fernsehen!) an diesem Gesichtspunkt zu messen. Der Mensch ist bei seiner Geburt in sozialisationstheoretischer Perspektive "physisches Rohmaterial" (Johannes Messner), ein "plastischer Organismus mit der Möglichkeit der Menschwerdung". Gleichwohl ist dieser "mögliche Mensch" des Geburtszustandes in moralischer und juristischer Perspektive bereits Mensch im vollen Sinn mit uneingeschränkter Menschenwürde. Für die Realisierung der Möglichkeit der "Menschwerdung des Menschen" übernimmt die "Natur" keine Gewähr. Die Verantwortung dafür trägt die menschliche Gesellschaft, konkret und primär natürlich die Eltern, aber keineswegs nur sie allein.

Der Persönlichkeitsentwicklungsprozeß ist im Augenblick der Geburt ergebnisoffen. Er ist sehr störanfällig und schließt die Möglichkeit tiefgreifender Störungen bis hin zum völligen Mißlingen ein. Die Menschwerdung des Menschen im Prozeß der Sozialisation ist etwas grundlegend anderes als die Entfaltung eines genetischen Programms beim Tier, bei dem alle Lebensvollzüge durch das "Instinktprogramm" gesteuert und gewährleistet werden. Das gibt dem Leben der Tiere ein so hohes, zeitüberdauerndes Maß an Stabilität. Der Mensch ist demgegenüber aufgrund seiner "Instinktreduktion" (die wiederum eine Voraussetzung für seine Plastizität und nahezu unbegrenzte Lernfähigkeit ist) ein sehr instabiles, anfälliges und "riskiertes" Lebewesen, ausgestattet mit der "konstitutionellen Chance zu verunglücken" (Arnold Gehlen). Vor allem die gut und verläßlich dokumentierten Beispiele von sogenannten "Wilden Kindern" oder "Wolfskindern" zeigen auf eindrucksvolle Weise, daß ein Gelingen der Menschwerdung des Menschen im Prozeß der Sozialisation durchaus nicht selbstverständlich ist. Sie machen auf die nahezu unbegrenzte Plastizität des "Organismus möglicher Mensch" des Geburtszustands sowie auf die Möglichkeit des partiellen oder auch totalen Scheiterns der Menschwerdung des Menschen im Prozeß der Sozialisation aufmerksam.

Es ist unvermeidbar, daß das gesellschaftliche Umwelt (Sozialisationsmilieu) sehr tiefgreifend auf den Prozeß der Persönlichkeitsentwicklung (Sozialisation) einwirkt. Das Ergebnis dieses Prozesses wird sehr weitgehend durch die Beschaffenheit des Sozialisationsmilieus bestimmt. Die "Wilden Kinder" zeigen, daß der Mensch in der Frühphase seiner Entwicklung dem Sozialisationsmilieu vollkommen ausgeliefert ist. Er ist für seine Menschwerdung in jeder Hinsicht, selbst für das Erlernen des aufrechten Ganges, auf Vorbilder angewiesen, um von ihnen durch Nachahmung lernen zu können. Dabei kann er sich diese Vorbilder nicht danach aussuchen, ob sie für ihn als Vorbilder zur Nachahmung für die Menschwerdung geeignet sind oder nicht. Er kann nur nachahmen, was er vorfindet. Findet er nur vierbeinig sich fortbewegende Lebewesen in seiner Umgebung vor, so ahmt er diese nach und lernt dann nicht den aufrechten Gang, sondern die Fortbewegung auf allen Vieren wie seine "Vorbilder". Dieses Phänomen beweist die nahezu unbegrenzte Plastizität des "Organismus möglicher Mensch" im Geburtszustand.

Die Bindungsforschung hat in den vergangenen Jahrzehnten immer deutlicher erkannt, von wie fundamentaler Bedeutung eine stabile Bindung des Menschen ist. Sie bildet sich in der Regel in der Mutter-Kind-Beziehung aus. Als entscheidende Einflußgröße wurde die Feinfühligkeit der Mutter in ihrer Reaktion auf die Bedürfnisbekundungen des Kindes erkannt. Nach den Erkenntnissen der Bindungsforschung entscheidet die Stabilität der frühkindlichen Bindung nicht nur über die spätere personale Bindungsfähigkeit des Menschen, sondern ebenso über seine Fähigkeit zur Bindung an Werte. Die Wertbindung des Menschen wiederum entscheidet maßgeblich darüber, ob er einen Halt im Leben findet oder haltlos bleibt. Auch Konzentrationsfähigkeit, Leistungsmotivation und Leistungsfähigkeit sind entscheidend von einer stabilen Bindung abhängig.

Auch die Erkenntnisse der Hirnforschung der vergangenen Jahrzehnte über die Plastizität des Gehirns die Beeinflussung der frühkindlichen Hirnentwicklung durch das Sozialisationsmilieu sind von großer Bedeutung. Die Hirnforschung sieht im Gehirn ein plastisches Organ, das sich durch die aus dem Sozialisationsmilieu kommenden Impulse (Sinneseindrücke) weitestgehend selbst organisiert und sich infolgedessen um so effizienter und differenzierter entwickeln kann, je "brauchbarer" und differenzierter die aus dem Sozialisationsmilieu kommenden Impulse sind. Die Entwicklung des Gehirns und die Ausformung seiner Strukturen sind somit aktivitäts- und erfahrungsabhängig.

Schließlich hat auch die Moralisationsforschung in jüngerer Zeit bedeutende neue Erkenntnisse über den Prozeß der Aneignung von Werten, der Entwicklung einer individuellen Moralität und eines persönlichen Gewissens im Verlauf des Sozialisationsprozesses gewonnen. Danach sind Moralität und Gewissen keine "Naturprodukte", sondern auch sie unterliegen der Plastizität und damit der Formbarkeit durch die Umwelt. Der Sozialethiker Johannes Messner schrieb 1950: "Es ist eine der Grundeinsichten der Anthropologie und der Sozialwissenschaften, daß für die Entwicklung des Menschen und seiner Anlagen mindestens soviel von der Umwelt abhängt wie von seinen angeborenen Anlagen. Das gilt auch für das Gewissen". Das Gewissen von Menschen, die in "abträglicher Umgebung aufwachsen", könne "so wenig entwickelt sein, daß der Glaube begründet erscheint, es fehle ihnen das Gewissen überhaupt [...]. Nichts wäre verfehlter, als zu glauben, die in einer Gesellschaft allgemein geltenden sittlichen Standards seien angeboren. Das Gewissen wird, wie überhaupt der Geist des Menschen, durch die Gesellschaft geformt, in der er heranwächst".

Zur "Naturausstattung" des Menschen gehört lediglich eine "moralische Antenne", eine Ansprechbarkeit auf moralische Fragen und ein elementares "Wertempfinden" (Max Scheler). Die Entfaltung dieser Möglichkeiten erfolgt nicht naturwüchsig, sondern durch Impulse aus der Umwelt (insbesondere von den Eltern) und ihre Verarbeitung. Das Ergebnis kann hohe moralische Sensibilität mit entsprechendem Verantwortungsbewußtsein sein. Es kann aber auch weitgehende moralische Unempfänglichkeit mit dem Extremergebnis völliger Gewissenlosigkeit sein. - Kinder können sich bereits sehr früh zu moralischen Wesen entwickeln, die sich für die moralische Urfrage, was richtig oder falsch, gut oder schlecht bzw. böse ist, interessieren. Für eine hinreichende Ausprägung einer individuellen Moralität ist es erforderlich, daß ihre moralischen Rückfragen alters- und situationsangemessen beantwortet werden. Sie dürfen nicht unbeantwortet bleiben.

Menschen unterscheiden sich bekanntlich in vielerlei Hinsicht voneinander; so auch hinsichtlich ihrer moralischen Entwicklung. Der Moralisationsforscher Lawrence Kohlberg unterscheidet insgesamt sechs Stufen der moralischen Reife und des moralischen Urteilsvermögens. Während auf den unteren Stufen die gesellschaftlichen Normen lediglich formal befolgt werden, um die unangenehmen Folgen der Nichtbefolgung zu vermeiden, so daß das Eigeninteresse dominiert und von Moralität im Prinzip noch gar nicht gesprochen werden kann, nehmen Menschen auf der fünften und insbesondere auf der sechsten Stufe unter Umständen Nachteile dafür in Kauf, daß sie ihren moralischen Überzeugungen auch dann folgen, wenn es unbequem oder unerwünscht ist. Wenn ihre moralischen Überzeugungen mit gesellschaftlichen Konventionen in Konflikt geraten, folgen sie ihren Überzeugungen, nicht den Konventionen. Auf Menschen mit diesem moralischen Niveau ist die Gesellschaft in besonderer Weise angewiesen. Denn sie sind es, die im Bedarfsfall die Grenzen der Gewohnheit überschreiten und Innovationen eröffnen. Deshalb muß das Bemühen um Wertevermittlung auf dieses Optimum ausgerichtet sein. Nicht Konformität ist dabei vorrangig anzustreben, sondern Autonomie im recht verstandenen Sinn.

Folgen anthropologischer Aufklärung

Würde die Öffentlichkeit solchen Erkenntnissen mehr Beachtung schenken, so würde sich das zwangsläufig auf die eingangs erwähnten Debatten auswirken: Die naturwüchsige Betrachtungsweise der Persönlichkeitsentwicklung würde überwunden. Der Störanfälligkeit und Ergebnisoffenheit des Prozesses der Menschwerdung des Menschen würde mehr Beachtung geschenkt. Das könnte nicht ohne politische Auswirkungen bleiben.

Zugleich hätte eine stärkere Beachtung solcher Erkenntnisse Auswirkungen auf das Menschenbild und den menschlichen Umgang: Wird der Mensch als Gewordener, als Resultat seiner Lebensgeschichte und damit seiner Menschwerdung gesehen, die so und nicht anders verlief, so verändert dies den Blick auf den konkreten Menschen und erleichtert einen toleranten Umgang mit ihm.

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Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.01.2006

Unter falscher Flagge

Von Kindeswohl sollte nicht sprechen, wer nur die Probleme der Erwachsenenwelt im Sinn hat.

VON STEFAN DIETRICH

Seit Wochen überbieten die beiden Regierungsparteien einander mit Vorschlägen und Ideen, die jungen Deutschen den Kinderwunsch schmackhafter, finanziell attraktiver oder zumindest verkraftbarer machen sollen. Doch das Wettrüsten auf diesem Gebiet hat nicht mit Ursula von der Leyen begonnen, sondern lange vor der großen Koalition. Zu Zeiten der Familienministerin Renate Schmidt verging fast keine Woche, in der nicht ein neues Gutachten, eine neue Initiative, ein neuer Kinder-, Jugend- oder Familienbericht vorgestellt worden wäre - und jede einzelne dieser Veranstaltungen war Wasser auf die Mühle der Werbekampagne, die immerfort klapperte: "Kinder kriegen mehr."

Kinder kriegen: mehr Betreuung, frühe Förderung, mehr Aufmerksamkeit, qualifizierte Tagesmütter, aktive Väter, zufriedene Mütter, verhieß das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf ungezählten Plakatwänden. Frau Schmidt, die wohl rührigste Familienministerin, die es je gab, hat der SPD und dem frauenpolitisch unmusikalischen Bundeskanzler Schröder erst gezeigt, wieviel gesellschaftspolitische Musik in diesem Thema steckt. Ob es darum ging, den Arbeitsmarkt in Schwung zu bringen, die Gleichstellung von Mann und Frau voranzutreiben, die Renten zu sichern, den demographischen Knick zu begradigen, dem Bund mehr Mitsprache in der Bildungspolitik zu verschaffen oder einfach sozialpolitisch umzuverteilen - für alles fand sich ein Ansatzpunkt in der Familienpolitik. Und das beste daran: Frau Schmidts Hebel waren länger als die aller Interessengruppen, denn der Einsatz "für die Kinder", die schwächsten und schutzbedürftigsten Glieder der Gesellschaft, schlug - und schlägt auch unter ihrer Nachfolgerin - jede Konkurrenz.

Fragt sich nur, ob dieser Einsatz wirklich vorrangig den Kindern gilt. Zuallererst sorgt sich die Politik immer um die Wähler, also um die Bürger über 18 im allgemeinen und neuerdings um die potentiellen Familiengründer der Altersgruppe unter dreißig Jahren im besonderen. Nach deren Wünschen fragten die Umfrageinstitute, die das Familienministerium ausschwärmen ließ, und was sie herausfanden, paßte perfekt ins politische Konzept eines "qualitätsorientierten und bedarfsgerechten Ausbaus der Betreuung für Kinder im Alter unter drei Jahren": Fast sechzig Prozent der jungen Erwachsenen sagen, es gebe zuwenig Betreuungsplätze für die Kleinsten. Nur fünf Prozent der jungen Frauen wollen sich ausschließlich um Haushalt und Familie kümmern, nur zehn Prozent ausschließlich dem Beruf widmen. Die überwältigende Mehrheit will beides. Aber wer verlangt denn das absolute Entweder-Oder, die Entscheidung für ein Kind als lebenslange Absage an Erwerbstätigkeit?

Auch wenn die Antworten den Befragten schon in den Mund gelegt wurden, wird niemand bestreiten, daß sie reale Erwartungen an die Politik widerspiegeln. Gestützt werden sie von Jugendforschern, die ein professionelles System von Krippen und Tagesmüttern befürworten, vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag, der "die Anpassung der Kinderbetreuung an die Erwerbsrealitäten" fordert, und vom Institut der deutschen Wirtschaft, das ausgerechnet hat, daß der Ausbau kostenloser Kita- Einrichtungen "volkswirtschaftlichen Nutzen" einbringe, der dessen Kosten bei weitem übersteige. Daß die Politik auf solche Erwartungen eingeht, wird man ihr nicht vorwerfen können. Nur sollte sie sich dabei nicht auf das Kindeswohl berufen, denn die Umfragen und Gutachten, auf die sie sich stützt, handeln doch ausschließlich von den Problemen der Erwachsenenwelt: vom Arbeitsmarkt, von elterlicher Lebensplanung, von Flexibilitätsansprüchen und sanierungsbedürftigen Sozialsystemen.

Nicht gefragt hat das Familienministerium die Kinderärzte und -psychologen, die davon abraten, Kinder schon im Krabbelalter fremder Betreuung zu überlassen. Nicht berücksichtigt werden die uralten Erkenntnisse der Bindungsforschung und die neuesten Beiträge der Hirnforschung, die darin übereinstimmen, daß die Fundamente einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung in den ersten drei Lebensjahren gelegt werden und wesentlich von stabilen Beziehungen abhängen. Nicht gefragt sind die Erfahrungen von Kriminologen und Jugendrichtern, die tagtäglich die Folgen emotionaler Verwahrlosung vor Augen haben. Deren Stimmen würden freilich die Eintracht der Familienpolitiker aller Fraktionen stören, die die Not der Alleinerziehenden zur Tugend eines erwünschten gesellschaftlichen Wandels erklären - und das traditionelle Familienbild, das in Wahrheit noch immer das Ideal ist, zum Auslaufmodell.

Nichts gegen Ganztagsschulen, Tagesmütter oder Ganztagskindergärten. Auch Krippen können in bestimmten Lebenslagen die beste verfügbare Lösung sein. Doch eine Familienpolitik, die mehr von wirtschaftlichem Nutzdenken her konzipiert ist als von kindlichen Bedürfnissen, segelt unter falscher Flagge. Arbeits- und Sozialpolitik sollte vom Arbeits- und Sozialminister entworfen und vertreten werden. Aufgabe der Familienpolitik ist es jedenfalls nicht, junge Erwachsene mit steuerlichen Anreizen vorzeitig in die Erwerbsarbeit zu locken und vom (wenigstens vorübergehenden) Zusammenleben mit ihren Kindern abzubringen, um die Arbeitsmarktstatistik aufzubessern. Schon gar nicht dürfen Mütter und Väter finanziell dafür bestraft werden, daß sie sich um ihrer Kinder und ihres eigenen Lebensglücks willen solchen Verlockungen entziehen. Doch mit ihrem familienpolitischen Wettrüsten ist die große Koalition dabei, genau das zu tun.

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Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 04.02.2006 – Leserbrief

Familiäre Güterabwägung

Es ist Stefan Dietrich ("Unter falscher Flagge", F.A.Z. vom 31. Januar) sicher zuzustimmen, wenn er fordert, daß Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht primär unter dem Gesichtspunkt des Kindeswohls zu verkaufen seien. Gleichwohl laufen die meisten dieser Maßnahmen unter "Familienförderung", und da gehören sie durchaus auch hin. Auch die Forderung, daß sich Familienpolitik ganz auf die Bedürfnisse des Kindes zu konzentrieren habe, geht am Ziel vorbei, denn zur Familie gehören immer auch noch die Eltern, und somit ist eine Abwägung der Interessen aller Beteiligten notwendig. Es ist in diesem Zusammenhang durchaus legitim, derlei Maßnahmen auch als Förderung für die Kinder darzustellen, denn Kinder, selbst wenn sie unter nicht ganz optimalen Bedingungen aufwachsen (geht optimal denn überhaupt ?), haben unendlich mehr Chancen und Möglichkeiten als Kinder, die aufgrund des Fehlens derartiger Programme gar nicht geboren werden!

Völlig indiskutabel wird Dietrich dann aber, wenn er im Zusammenhang mit der Fremdbetreuung (was für ein Wort!) die "Erfahrungen von Kriminologen und Jugendrichtern" erwähnt, "die tagtäglich die Folgen emotionaler Verwahrlosung vor Augen haben", und damit einen Zusammenhang von Fremdbetreuung und Verwahrlosung suggeriert. Ein solcher Zusammenhang existiert nicht, und wenn Dietrich sich die einschlägigen Statistiken einmal sorgfältig durchlesen würde, könnte er feststellen, daß im Gegenteil sogar ein erheblicher Teil der verwahrlosten und kriminellen Jugendlichen aus Elternhäusern stammt, in denen sogar beide Elternteile (aus den verschiedensten Gründen wie Arbeitslosigkeit, Sucht und so weiter) zu Hause sind, mithin eine Fremdbetreuung nicht stattgefunden hat und solche Probleme eher eine Folge mangelnder Betreuungsqualität sind. Im übrigen ist mir keine Untersuchung bekannt, wonach zum Beispiel junge Franzosen durch die Bank verwahrloster oder krimineller als ihre deutschen Altersgenossen wären und das trotz einer fast flächendeckenden Fremdbetreuung.

Familienpolitik muß sich den heutigen Realitäten stellen und nicht vergangenen Idealen aus den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nachtrauern, egal, wie sehr Dietrich das möchte. Diese Realitäten sehen nun einmal so aus, daß die "traditionelle Familie" nun immer weiter zurückgeht - das kann man bedauern, wird daran aber so schnell nichts ändern.

Und ob nun das "traditionelle Familienmodell" der Idealzustand ist, sei einmal dahingestellt - die zitierten "Erkenntnisse der Bindungsforschung und die neuesten Beiträge der Hirnforschung" taugen als Argument gegen die Fremdbetreuung nur insoweit, als daß bei einer Fremdbetreuung sichergestellt sein sollte, daß sich das (ausgebildete) Betreuungspersonal nicht (überspitzt formuliert) im Stundentakt die Klinke in die Hand gibt. Bessere Betreuung, das zeigt das Beispiel Frankreich, ist (zusammen mit anderen familienpolitischen Maßnahmen) zumindest zielführend, was eine Verbesserung der Geburtenrate betrifft.

Dr. Alexander Reuter, Oberteuringen

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Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 04.02.2006 – Leserbrief

Das Kindeswohl

Endlich eine Stimme, welche die herrschende Meinung in der Familienpolitik zutreffend analysiert: Es geht um vieles, aber bestimmt nicht um das Wohl der Kinder ("Unter falscher Flagge", F.A.Z. vom 31. Januar). Hier in Frankreich, wo ich aus beruflichen Gründen seit fast acht Jahren wohne, kann man die Wirkungen der von Ihnen kritisierten Familienpolitik gut beobachten. Die jüngsten Unruhen in den Vorstädten zeigen, was mit einer solchen Politik angerichtet wird: Zehnjährige, die mit Benzinflaschen mitten in der Nacht festgenommen werden; Ausgangssperren für Acht- bis Fünfzehnjährige, um die Ruhe wiederherzustellen; Brandanschläge auf Kindergärten, Grundschulen und Krankenhäuser.

Paul Deuring, Calais, Frankreich

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Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09.02.2006 – Leserbeirf

Family light

Als Ärztin und fünffache Mutter gratuliere ich dem Autor des Leitartikels "Unter falscher Flagge" (F.A.Z. vom 31. Januar) zu seinem mutigen Plädoyer für das Kindeswohl. Er beschreibt Familienpolitik als das, was sie leider ist: eine Frauenerwerbspolitik. Und es mag ja stimmen, daß aufgrund der Benachteiligung der Familien im Steuerrecht und in den sozialen Sicherungssystemen Frauen verstärkt arbeiten müssen. Aber das neue familienpolitische Konzept wird weder der Wahlfreiheit der Eltern, sich selbst um die Erziehung der Kinder zu kümmern, noch dem Wohl der Kinder gerecht. Ganz im Gegenteil, das Kind wird immer mehr zur Verfügungsmasse der Ansprüche der Erwachsenen. Mit der Zauberformel der Vereinbarkeit von Beruf und Familie preist die Politik ein "Family-light-Modell" an, das durchweg externe, kollektive, ganztägige Betreuung, wenn es sein muß quasi vom Kreißsaal ab, vorsieht. So nimmt Familienpolitik billigend in Kauf, daß zusehends gegen wichtige entwicklungspsychologische Bedürfnisse von Säuglingen und Kleinkindern verstoßen wird. Aufgabe der Politik bleibt es, Familien als Keimzelle dieser Gesellschaft zu stärken. Ihr die wichtige Erziehungsaufgabe abnehmen zu wollen heißt, die Betreuung im Kollektiv festzuschreiben. Das Kollektiv aber war nie - auch wenn sie kultivierter daherkommt als Sparta, Kibbuzim und DDR-Krippe - ein Nährboden für gesunde, selbstsichere, kreative und optimistische Bürger. Und auf diese ist unsere Gesellschaft mehr denn je angewiesen.

Dr. med. Amely van Lier, Nierstein

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Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09.02.2006 – Leserbrief

Kinder brauchen Zeit

Zum Leitartikel "Unter falscher Flagge" (F.A.Z. vom 31. Januar): Ich bin diplomierte Volkswirtin und Mutter dreier Kinder im Alter von drei, fünf und sieben Jahren. Die Familienpolitik bereitet mir zunehmend Unbehagen. Sie reduziert sich fast ausschließlich auf die Forderung nach der Bereitstellung zahlreicher Betreuungsangebote - und das möglichst von Geburt an. Kinder werden in der öffentlichen Diskussion in erster Linie als Risiko wahrgenommen - als Risiko der Einschränkung der beruflichen Selbstverwirklichung der Eltern. Die Bedürfnisse und Wünsche der Kinder werden so gut wie nie erörtert.

Die Erziehung in Betreuungseinrichtungen kann nur parallel zur elterlichen Erziehung stattfinden. Wir Eltern haben schließlich die Hauptverantwortung für die Entwicklung unserer Kinder. Kinder brauchen (und fordern) ihre Eltern außerordentlich stark - sie brauchen vor allem Zeit. Ich persönlich habe mich daher dazu entschlossen, mich zumindest für einige Jahre ausschließlich um meine Familie zu kümmern. Wütend und traurig macht mich die fehlende gesellschaftliche Anerkennung meiner Arbeit. Wir selbst erziehenden Eltern können kaum noch mit Zuspruch oder gar Unterstützung rechnen. Politiker, die sich - wie jüngst Christoph Böhr - für die traditionellen Familien einsetzen, werden respektlos als von "vorvorgestern" tituliert. Ich erwarte, daß mir für meine derzeitige Lebensweise Respekt entgegengebracht wird. Die elterliche Erziehungsarbeit muß endlich wieder als gesellschaftlich wertvoll anerkannt werden. Die in den Schulen zu verzeichnende steigende Gewaltbereitschaft ist sicherlich auch auf fehlende Zuwendungen in den Familien zurückzuführen. Auch in der hiesigen ländlichen Region ist ein erschreckendes Maß an Zerstörungswut schon in der Grundschule zu beobachten.

Kinder brauchen Liebe und Zuwendung in einem ganz erheblichen Maße. Sie begrenzen unsere persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten entscheidend - und bereichern gleichzeitig auf außergewöhnliche Weise unser Leben. Dies muß jungen Paaren klargemacht werden, die vor der Frage stehen, ob sie eine Familie gründen wollen oder nicht. Ist man zu diesem Einschnitt nicht bereit, so verzichtet man besser auf Kinder.

Anke Müller, Föhren

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Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.02.2006 – Leserbrief

Totgeschwiegene Bindungsforschung

 

Als langjährig berufserfahrene Kinderärztin, Psychotherapeutin und Mutter zweier Kinder kann ich mich Stefan Dietrichs Kritik an der Familienpolitik ("Unter falscher Flagge", F.A.Z. vom 31. Januar) nur anschließen. "Wir müssen mehr für Kinder tun", heißt es, und im nächsten Satz ist von mehr Kinderkrippen die Rede. Als ob jemals ein Kind den ihm zustehenden Platz bei seiner Mutter gerne und freiwillig für einen Krippenplatz aufgegeben hätte. Was wir da tun, grenzt an seelische Mißhandlung. Die Entwicklung in den ersten drei Lebensjahren ist bestens erforscht. Bowlby hat schon Anfang der fünfziger Jahre in einer umfassenden Studie für die WHO auf den Zusammenhang von geistiger Gesundheit und mütterlicher Zuwendung hingewiesen. Das wird bestätigt durch heutige Bindungsforscher. Auch die Forschungen von René Spitz, Margret Mahler, Erikson, Hassenstein kommen zu eindeutigen Ergebnissen. Warum werden diese bis heute nicht widerlegten, sondern durch die neueste Hirnforschung bestätigten Forschungsergebnisse totgeschwiegen? Es gibt anthropologische Konstanten, und dazu gehören Elternschaft und "Brutpflege". Das Menschenkind ist ein extremer Nesthocker, der mit einem unreifen Gehirn auf die Welt kommt und dessen geistig-seelische Entwicklung - wie die Hirnforschung belegt - im wesentlichen erst nachgeburtlich stattfindet. Da können wir lange hoffen auf leistungsfähige Persönlichkeiten, auf Denker und Forscher, wenn wir das nicht berücksichtigen. Nur auf dem Boden zuverlässiger Bindung, das heißt in der Regel im Schutz der Mutter, entwickelt sich die normale Neugierde des Kindes, die es zum Forscher werden läßt. Ohne Bindung - dabei gibt es natürlich Abstufungen - keine Liebes- und Arbeitsfähigkeit; nur Bindung bewirkt auch Tötungshemmung. Leider wird ein Satz der Bindungsforscher ständig aus dem Zusammenhang gerissen, nämlich der Hinweis, daß es auf die Qualität der Zuwendung und nicht nur auf die Quantität ankomme. Was unter Qualität der Zuwendung zu verstehen ist, wird dann bei den Befürwortern der Fremdbetreuung verschwiegen: mütterliche Feinfühligkeit, die einhergeht mit empathischer Wahrnehmung der Verhaltensweisen des Säuglings und Kleinstkindes, der zutreffenden Interpretation seiner Äußerungen, der prompten Reaktion darauf und der Angemessenheit der Reaktion. Es ist naiv zu glauben, daß dies in einer Stunde pädagogisch wertvoller Bespielung am Abend zu leisten wäre. Einige sogenannte Frühpädagogen erforschen leider nicht die Spätfolgen.

Sicher muß es auch Kinderkrippen geben, aber für den Notfall. Natürlich wollen auch Mütter ihre Ausbildung und ihren Beruf nicht vergessen. Man muß nach intelligenten Lösungen suchen, die der Mutter ein Teilzeitberufsleben, Mitnahme des Kindes an den Arbeitsplatz oder einen Wiedereintritt ermöglichen. Die Rechnung: mehr Ganztagsbetreuung, mehr Mütter in Vollzeitarbeit, mehr Kinder, wird nicht aufgehen. Wir merken es jetzt schon, und wenn wir so weitermachen in zwanzig Jahren ganz bestimmt: Die Hoffnung auf eine dadurch steigende Geburtenrate ist Illusion. Wer tut sich den Stress mit den "Chaos-Kindern" denn noch an? Wenn wir nicht so schnell wie möglich die alles entscheidende Frage stellen, was Kinder brauchen, um seelisch und geistig gesund groß zu werden, und dann entsprechend handeln, dann werden die Verhaltensstörungen explodieren, die Jugendkriminalität steigen, dann wird "Pisa" nicht zu retten sein. Und all das, weil wir das schwächste Glied unserer Gesellschaft, das Kind, dem Geld und einer falsch verstandenen Emanzipation opfern.

Dr. med. Uta Müller-Lindenlauf,  Maring-Noviand

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Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.02.2006 - Leserbrief

Erst die Bindung, dann die Lösung

Zum Leitartikel von Stefan Dietrich "Unter falscher Flagge" (F.A.Z. vom 31. Januar): Wie oft habe ich mich schon gewundert, weshalb man von sozialwissenschaftlicher und medizinischer Seite der Familienpolitik nicht öffentlich Kontra gibt. Sowohl in der jetzigen als auch in der früheren Regierung gab es diverse ökonomische Berater, aber wo bleiben denn die Ärzte, Lehrer, Psychologen, Therapeuten, Erzieher, Kinderpfleger und Eltern (beider Geschlechter)? Ich bin Ergotherapeutin und Mutter. Wir haben schon lange aus gutem Grund Erziehungszeiten, Mutterschutz, Stillzeiten für Berufstätige im Betrieb und so weiter. Wie kann man da als Politiker ernsthaft auf einzelne Forderungen nach Kinderbetreuung vom ersten Tag an eingehen? Wer so etwas unterstützt, handelt gegen die Gesundheit und das seelische Wohlergehen des Kindes.

Zuerst kommt die Bindung, dann die Lösung. Wer das Glück hatte, eine solche zu erfahren, kann sich auch wieder lösen und das Verinnerlichte an den Partner und die Kinder weitergeben, seien es eigene oder andere. Das kann man mit keinem Geldschein ersetzen.

Linde Knapp-Heckener, Rheinstetten

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Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.02.2006 - Leserbrief

Beim dritten wird es ernst

Stefan Dietrichs Leitartikel "Unter falscher Flagge" (F.A.Z. vom 31. Januar) spricht vielen, vor allem größeren Familien aus der Seele. Denn erst beim dritten Kind wird es wirklich ernst (und schön). Größeres Auto, geräumige Wohnung werden fällig, möglichst etwas ländlich, möglichst mit Garten. Da dritte, gar vierte Kinder rar geworden sind, wäre es doch finanziell möglich gewesen, solchen meist verarmenden Großfamilien Eigenheimzulage und Entfernungspauschale zu belassen. Denn das erschwingliche Haus liegt weit draußen, nicht an der Endstation von U-Bahn oder Buslinie. Hausarbeit, Einkäufe, Arztbesuche, Aufgabenbetreuung, Sprechstunden in Kindergarten und Schule, Probleme mit ständigen Krankheiten wachsen bei jedem weiteren Kind ins schier Uferlose, und wehe die Mutter wird krank.

Kindeswohl? Dietrichs politisch unkorrekter, also tapferer Leitartikel klagt es ein. Allein die Sprache: "Tagesstätte" ist ein emotional gänzlich neutrales Wort. Die dort gewährte "Betreuung" erst recht. Betreut werden auch Hund, Goldhamster, Kanari oder Schafherde. Eine normale Mutter betreut Kinder "nebenher". Vor allem aber pflegt, tröstet, unterstützt, ermahnt sie, und über all dies noch weit hinaus liebt sie alle. Erziehungsfehler inbegriffen. Perfekte Mütter sind selten, perfekte Betreuer auch. Aber wie oft wechseln diese in Kita oder Ganztagsschule? Wie stark lieben sie alle "Betreuten"?

Es geht hier beileibe nicht darum, die einen gegen die anderen auszuspielen. Doch wo bleibt die freie Wahl zwischen Mutterberufung und Halbtags-, Ganztags-, gar Karrierearbeit? Wie kann es der Staat wagen, hier regelnd einzugreifen, anstatt zum Beispiel endlich Familiensplitting einzuführen? Muß sich die daheim "arbeitende" Mutter ständig auch staatlicherseits diskriminieren lassen? Gesellschaftlich wird sie dies ohnehin.

Demographie? Alle reden davon. Daß jedoch erst Drittkinder eine noch sehr ferne Wende einläuten könnten, wird zwar gelegentlich (auch in der F.A.Z.) erwähnt, staatliche Konsequenzen sind aber nicht in Sicht.

Dr. Barbara von Wulffen, Stockdorf

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Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.09.2005 - Leserbrief

Wofür sich zu kämpfen lohnte

Zu den Leserbriefen "Artenschutz für erziehende Eltern" von Dr. Pia Froehlich und "Geförderte Entfremdung" von Angela Brigitte Römelt (F.A.Z. vom 7. September) und zum Beitrag "Umdenker" (F.A.Z. vom 26. August): Ich kann den Schreiberinnen der beiden Briefe voll zustimmen, und zwar sowohl aufgrund theoretischer Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie als auch hinsichtlich meiner alltäglichen Erfahrung mit Menschen als Psychoanalytikerin. Eine Fremdbetreuung von Kleinkindern unter drei Jahren dürfte nur Notfallsituationen vorbehalten sein, wenn man das seelische Wohl der Kinder an erster Stelle sieht. Bei den Diskussionen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und insbesondere um frühe Fremdbetreuung werden die Bedürfnisse der Kleinkinder nicht wirklich gesehen, und eigentlich sollten die Mütter die Anwältinnen ihrer Kinder sein. Warum kämpfen Frauen nicht für das Recht, Muttersein ohne gesellschaftliche Benachteiligung ausüben zu dürfen und diesen wichtigsten Dienst an der Gesellschaft honoriert zu bekommen, statt für das Recht auf einen Krippenplatz? Warum fordern sie nicht, nach der "Kinderzeit" ein Recht auf besondere Förderung und Wiedereingliederung in Beruf und Karriere zu haben? (Angela Merkel hat diese Aspekte in ihrem Fernsehduell mit Schröder eingebracht und darauf hingewiesen, daß die Gesellschaft von dem profitieren kann, was Eltern in der Kinderbetreuung an vielfältigem Kompetenzzuwachs erwerben, und daß Karrierenachteile durch Kinderbetreuungszeiten ausgeglichen werden müssen.) Aber es geht nicht nur um eine Kosten-Nutzen-Rechnung.

Die Grundlage aller menschlichen Beziehung ist die Beziehung zwischen Mutter und Kind zu Beginn des Lebens und in den ersten Lebensjahren. Ein Sprichwort sagt: "Die Hand, die die Wiege bewegt, bewegt die Welt." Warum wissen scheinbar so viele Frauen nicht mehr um den Wert, den sie ganz einmalig und nicht austauschbar für ihr Kind haben?

Dr. med. Marianne Katterfeldt, Lippstadt

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Die Neue Ordnung, 60.Jahrgang, Heft 5, Oktober 2006

Wider die anthropologische Ignoranz

Missachtung des Kindeswohls in der aktuellen Familienpolitik

Von Johannes Schwarte

Die Große Koalition will der Familienpolitik einen hohen Stellenwert verleihen. Während Bundeskanzler Schröder sie als "Gedöns" bezeichnet haben soll, will die jetzige Regierung die Familien "vom Rand in das Zentrum des öffentlichen Interesses" holen, wie es in der Stellungnahme der Bundesregierung zum jüngst erschienenen Siebten Familienbericht heißt.[1] Darüber müßten sich zumindest all diejenigen vorbehaltlos freuen können, denen das Thema Familie – sei es aus persönlicher Betroffenheit, sei es aus gesellschaftspolitischen Gründen – am Herzen liegt.

Das ist aber nur bedingt der Fall. Die Beurteilung schwankt je nach Standort, Bezugspunkt und Perspektive erheblich: Wer in der Verbesserung der Vereinbarkeit von Elternverantwortung und außerhäuslicher Berufs- und Erwerbstätigkeit (auch der Mütter) die wichtigste aktuelle Aufgabe der Familienpolitik sieht, wird zu einer völlig anderen Beurteilung gelangen als die Befürworter einer vorrangigen Berücksichtigung der Bedürfnisse der Kinder. Diese gelangen zu dem Urteil, daß die aktuellen familienpolitischen Zielsetzungen die Bedürfnisse der Kinder mißachten bzw. verkennen.

Die vorliegende Kritik resultiert aus einer intensiven Beschäftigung mit den Bedingungen und Gefährdungen der frühkindlichen Entwicklung und ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit.[2 Sie läßt sich von der Überzeugung leiten, daß verantwortungsvolle Familienpolitik das Kindeswohl in den Mittelpunkt stellen muß und sich infolgedessen vorrangig an den Bedürfnissen der Kinder zu orientieren hat. Sie schließt sich der Auffassung an, daß eine Gesellschaftsordnung anzustreben ist, "in der vor allen Entscheidungen zuerst gefragt wird: Wie wirkt sich das Kommende aus das Wohl von Kindern aus? und in der dann für die Entscheidung das Wohl der Kinder die maßgebende Rolle spielt".[3]

Kindeswohl und Bedürfnisse der Kinder

Was aber ist das Wohl des Kindes? Zum besseren Verständnis der weiteren Argumentation ist zunächst eine kurze Inhaltsbestimmung der Begriffe "Kindeswohl" und "Bedürfnisse der Kinder" erforderlich. Unter letzteren sind keine subjektiv vom Kind selbst empfundene und "angemeldete" Bedürfnisse zu verstehen, sondern anthropologische. Sie ergeben sich aus den Bedingungen des Menschwerdens und Menschseins (conditio humana / condition humaine) und sind "zeitlos". Sie unterliegen weder einem historischen Wandel, noch können sie sich den anders gearteten Bedürfnissen der Eltern, etwa ihren Emanzipations- oder Freizeitbedürfnissen, anpassen.

Um welche Bedürfnisse handelt es sich? Zeit, Zuwendung, Zärtlichkeit brauche das Kind, um sich optimal entwickeln zu können, erkannte Johann Heinrich Pestalozzi (1746 - 1827) bereits zu seiner Zeit und mit seinen Erkenntnismitteln der intensiven Beobachtung und des Vergleichens - ohne auf die Ergebnisse moderner, weltweiter Sozialisationsforschung, Bindungsforschung und Hirnforschung zurückgreifen zu können, die ihn heute vollauf bestätigen.

In der "Erklärung der Rechte des Kindes" der Vereinten Nationen von 1959 heißt es: "Das Kind bedarf zur vollen und harmonischen Entwicklung seiner Persönlichkeit der Liebe und des Verständnisses. Es muß möglichst in der Obhut und unter der Verantwortung seiner Eltern, immer aber in einer liebevollen, moralische und materielle Sicherheit bietenden Umgebung aufwachsen. Im zarten Alter darf das Kind nicht von seiner Mutter getrennt werden, außer durch ungewöhnliche Umstände."

Will die Bundesregierung nicht behaupten, es seien heute durchgängig für alle Mütter solche "ungewöhnlichen Umstände" gegeben, so daß die Propagierung einer Berufstätigkeit von Müttern kleiner Kinder gerechtfertigt sei, so muß sie sich vorhalten lassen, mit ihrer Familienpolitik hinter einer bereits 1959 von den Vereinten Nationen deklarierten Richtlinie zurückzubleiben. Das Gewicht dieser Vorhaltung erhöht sich noch durch den Hinweis auf den enormen Zuwachs an Erkenntnissen in den oben erwähnten Wissenschaften seit Ende der fünfziger Jahre, so daß wir heute noch viel besser über die Bedürfnisse des Kindes informiert sind oder sein müßten, um noch genauer wissen zu können, was der frühkindlichen Entwicklung schadet und was ihr förderlich ist.

Auf all diese Erkenntnisse zugreifend hat Hans-Joachim Maaz im vergangenen Jahr eine Studie über Mutterschaftsstörungen veröffentlicht.[4] Mit ihr macht er darauf aufmerksam, "was ein Kind für eine psychosoziale Entwicklung braucht und welche schwerwiegenden Folgen Beziehungsdefizite, mangelhafte Befriedigung und seelische Verletzungen in der individuellen Frühgeschichte für das ganze Leben des Menschen haben können".[5 Er formuliert darin eine Reihe von "Mütterlichkeits-Anforderungen" und versteht darunter "Erwartungen an Mütter aus der Perspektive des Kindes, die für die frühe Entwicklung des Kindes von entscheidender Bedeutung sind". Dazu zählen: die Anwesenheit der Mutter, ihre Einfühlung (Empathie), ihre Befriedigungsfähigkeit, ihr "Mut zur realitätsgerechten Begrenzung und ihre Hilfsfähigkeit zur emotionalen Verarbeitung von unangenehmen wie lustvollen Erfahrungen".[6]

Die Stellung des Kindes in der aktuellen Familienpolitik

Es kann hier nicht um eine umfassende Auseinandersetzung mit allen familienpolitischen Aspekten und Zielsetzungen gehen, wie sie im Siebten Familienbericht, einem Konvolut von über 500 Seiten, und der Stellungnahme der Bundesregierung dazu enthalten sind. Vielmehr beschränkt sich diese Kritik auf einen einzigen, aber zentralen Punkt: nämlich auf die Frage nach dem Stellenwert des Kindes in der Familienpolitik.

Die zu beklagende Mißachtung des Kindeswohls äußert sich vor allem in der Art und Weise, wie Kinder im Siebten Familienbericht vorkommen, genauer: wie darin mit ihren Bedürfnissen umgegangen wird. Dabei ist er durchaus nicht blind für die Bedeutung der ersten drei Lebensjahre des Kindes, hier insbesondere für die Bedeutung der Eltern und dann noch einmal gesondert der Mutter. So heißt es zur Bedeutung der Familie als dem Sozialisationsmilieu der Kinder: "Sie wachsen in die Familie hinein und mit ihr auf. Familie bildet somit nicht nur die Basis für die kindliche Sozialisation in der frühen Vater-Mutter-Kind-Beziehung, sondern sie ist, solange die Kinder im Haushalt der Eltern leben, ein wichtiger Raum für die Sammlung von Erfahrungen in der Sorge für andere, der Anregungen zur eigenen Persönlichkeitsbildung und zur Ausbildung von Orientierungen und sozialen Werten".[7] An anderer Stelle heißt es: "Kinder können sich dann am besten entwickeln, wenn sie in einer Familie aufwachsen, in der die Eltern ihnen die Möglichkeit zu engen und vertrauensvollen Bindungen mitgeben und ihnen gleichzeitig die Chancen eröffnen, schrittweise, entsprechend ihrer eigenen Entwicklung, die Welt der Familie, der Freunde, der Nachbarschaft und der Gemeinde zu entdecken. In diesem Sinne stellen Eltern die wichtigste Ressource für die kindliche Entwicklung dar".[8

Der Familienbericht ist also keineswegs prinzipiell sozialisationsblind in dem Sinn, daß er nicht um das Drama der frühkindlichen Persönlichkeitsentwicklung wüßte. Es kann ihm sogar attestiert werden, daß er sozialisationstheoretisch durchaus auf der Höhe der Zeit ist und neueste Erkenntnisse der Neurobiologie/Hirnforschung und Kognitionsforschung einbezieht. Bezugnahmen auf Ergebnisse der Moralisationsforschung allerdings, die der Entwicklung von Moralität und Gewissen im Prozeß der Persönlichkeitsentwicklung nachgeht, fehlen vollständig.

Über den Sozialisationsprozeß heißt es, er umfasse "Aufgabenverteilungen und Zuständigkeitsordnungen zwischen den Familienmitgliedern". Das wichtigste Ergebnis neuerer Forschungen zur frühkindlichen Sozialisation bestehe in einem anderen Verständnis darüber, "wie Kinder in unterschiedlichen Phasen lernen und sich entwickeln. Erkenntnisse der Hirnforschung über Aufbau und Aneignungsweise von Welt relativieren die Vorstellung vom menschlichen Gehirn als reinem Speicher von Wissen, der vorrangig mit Schuleintritt systematisch angereichert wird. Diese Analysen relativieren zugleich die Auffassung, daß es in der frühkindlichen Entwicklung zunächst ausschließlich um den Aufbau von Bindung, emotionaler Sicherheit, zuverlässige Befriedigung basaler Bedürfnisse usw. gehe. Diese bleiben in ihrer Bedeutung für die frühkindliche Entwicklung erhalten, doch tritt die Erkenntnis hinzu, daß das Gehirn zugleich ein egozentriertes Steuerungsorgan von Wahrnehmung, von Entschlüsselungsversuchen der Sinneseindrücke, der Selbstverarbeitung und Aneignung von Umwelt ist, dem man nicht vorschreiben kann, wann es lernt oder über welche Sinne es lernt. Seine Leistungsfähigkeit läßt sich nicht dadurch beeinflussen, daß Lernprozesse explizit über den Kopf gestaltet werden".[9

Auch auf die sich ständig vertiefenden Einsichten in die fundamentale Bedeutung der Erwachsenen als Vorbilder in einem elementaren Sinn wird hingewiesen: "Das Kind verarbeitet den Stil der Erwachsenen, reagiert schon ab Geburt, ob es von einer Person nur 'versorgt' wird, ob es von einer weiblichen oder männlichen Stimme begleitet wird, ob diese Person Hektik oder Ruhe ausstrahlt usw., da jeder Mensch in der Art der Berührung, dem Weg der Anregung und dem Medium der Kommunikation anderes anbietet. Es ist diese Vielfalt und die inhaltlich-emotionale Besetzung jedweder Interaktion mit dem Kind, die den Reichtum in der Entwicklung neuronaler Netze in der frühkindlichen Phase ausmacht. Dem Kind das Gefühl der Mitgestaltung und der Ermutigung von Selbsterkundung zu geben, bedeutet nun wiederum Besonderes für die familiale Beziehungsqualität insgesamt".[10

Diese durchaus beeindruckenden Formulierungen wecken beim Lesen die selbstverständliche Erwartung, daß die Bedürfnisse der Kinder in diesem Bericht hinreichend berücksichtigt werden müßten. Sie lassen als Schlußfolgerung ein eindeutiges Plädoyer für die Stärkung der familialen Sozialisationsfunktionen und insbesondere für die Gewährleistung elterlicher, insbesondere mütterlicher Präsenz erwarten. Aber dieses Plädoyer wird nicht nur nicht gehalten, sondern es wird mit Nachdruck für das Gegenteil plädiert: für die Berufstätigkeit von Müttern kleiner Kinder unter drei Jahren und für den Ausbau von "Betreuungseinrichtungen". Grandiose Inkonsequenz ist eines der "Markenzeichen" des Siebten Familienberichts.

Mutterentbehrung der Kinder als Folge der "Betreuungslösung"

Fragt man nach den Gründen für diesen inneren Widerspruch des Siebten Familienberichts, so kann die Antwort nur lauten, daß die öffentliche Erwartungshaltung – wenn es nicht gar entsprechende politische Vorgaben waren – andere politische Postulate erzwang, als sie sich aus den sozialisationstheoretischen Ausführungen hätten ergeben müssen: nämlich eine vorrangige Orientierung an den Emanzipationsbedürfnissen der Erwachsenen unter Vernachlässigung des Kindeswohls. Zwar heißt es in der Stellungnahme der Bundesregierung, "gleiche Chancen der Geschlechter und gute Entwicklungschancen für alle Kinder" seien "gleichermaßen wesentliche Leitziele". Aber in Wahrheit müssen die Bedürfnisse der Kinder eindeutig hinter die Berücksichtigung des Berufstätigkeitswunsches ihrer Mütter zurücktreten. Darüber hinaus ist es bemerkenswert, daß den Kindern lediglich gute, aber keine optimalen Entwicklungschancen eingeräumt werden. Von einer politische Absichtserklärung zu den Entwicklungschancen der Kinder und damit des gesellschaftlichen Nachwuchses sollte man das Optimum als Zielsetzung erwarten können.

Liest man die folgende Erklärung der Bundesregierung in der Perspektive der Bedürfnisse kleiner Kinder, so kann man sie nur brutal nennen: "Die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, die Kinderbetreuung insbesondere für die unter Dreijährigen auszubauen". Bezeichnend ist auch die ökonomische Begründung dieser Zielsetzung: Unter Berufung auf Bert Rürup, den Vorsitzenden des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der "die Notwendigkeit einer Mobilisierung der sogenannten Stillen Reserve, Frauen mit kleinen Kindern", betont habe, wird dieses Ziel gutgeheißen, ohne auch nur mit einen Satz auf die Folgen der damit verbundenen Mutterentbehrung für die unter Dreijährigen einzugehen. Statt dessen wird auf ein zu erwartendes "nennenswert höheres wirtschaftliches Wachstum" verwiesen.[11

Die Mißachtung des Kindeswohls tritt in der Stellungnahme der Bundesregierung erheblich deutlicher hervor als im Siebten Familienbericht selbst. Zwar plädiert auch er für eine Berufstätigkeit der Mütter von Kindern unter drei Jahren und damit für den massiven Ausbau von "Betreuungseinrichtungen"; aber er ist in dieser Frage nicht ganz so unbekümmert wie die Stellungnahme. So heißt es etwa: "Bei einer vollständigen Integration der Frauen und Mütter in das Erwerbsleben besteht die Gefahr, daß die Fürsorge für andere, die in der Industriegesellschaft mit der Mutterrolle verbunden war, weitgehend kommerzialisiert wird und damit jene personalen Beziehungen infrage gestellt werden, die für die individuelle Entwicklung von entscheidender Bedeutung sind".[12

Solche Bedenken hat die Bundesregierung sich nicht zu eigen gemacht. Sie verbreitet in der Stellungnahme unbekümmerten Optimismus hinsichtlich der Folgen der "Betreuungslösung" für die Kinder: "Von einer qualitativ hochwertigen frühzeitigen und individuellen Förderung durch passende Betreuungsangebote gehen sowohl positive Effekte für die Entwicklung der Kinder als auch die Lebensplanungen von Eltern durch bessere Bedingungen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf aus".[13] Dieser unbekümmerte Optimismus kann sich nicht auf wissenschaftliche Ergebnisse berufen, sondern es ist purer Zweckoptimismus. Andere politische Prioritäten als eine Orientierung am Kindeswohl nötigen die Regierung dazu, will sie nicht offen eingestehen, daß sie sich über die Bedürfnisse der Kinder hinwegsetzt und ihnen Mutterentbehrung verordnet.

Folgen der Mutterentbehrungfür die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes

Im Anschluß an die bereits erwähnte Veröffentlichung von Joachim Maaz sollen die Folgen der politisch verordneten Mutterentbehrung verdeutlich werden. Maaz spricht von "Muttermangel" und "Mutterverarmung" und versteht darunter einen "Mangel an Mütterlichkeit, der räumlich, zeitlich und beziehungsdynamisch unterteilt und verstanden werden kann". So verstandener Muttermangel kann verschiedene Ursachen mit entsprechend unterschiedlicher Verantwortlichkeit haben: den Tod der Mutter, die zeitliche und räumliche Abwesenheit aufgrund von Berufstätigkeit oder Krankheit oder die zu wirklicher Mütterlichkeit nicht fähige "Mangelmutter". Die Folgen für das Kind sind jeweils dieselben, denn: "In den ersten drei Lebensjahren des Kindes ist die Mutter die wichtigste Bezugsperson in jeder Hinsicht – durch nichts und niemanden wirklich zu ersetzen und ohne Schädigung des Kindes auch nicht zu kompensieren. Die Zeit der 'sozialen Frühgeburt' ist erst nach etwa drei Jahren beendet. In dieser Zeit der wesentlichen Strukturbildung der Persönlichkeit bilden sich ganz basale Fähigkeiten von Welterfahrung heraus: Urvertrauen oder Urmißtrauen, Gewißheit oder Zweifel, Selbstsicherheit oder Selbstunsicherheit, Selbstbewußtsein oder Minderwertigkeitsgefühle. Auch die Wurzeln für Sinnerfahrung, Beziehungsfähigkeit und Realitätsbezug gegen Sinnlosigkeit, Kontaktangst und Irrationalität entfalten sich in dieser Zeit. So entscheidet die Mutter auf das nachhaltigste über die Zukunft ihres Kindes. Sie sollte also in dieser Prägungsphase am besten immer präsent sein und nur das Kind entscheiden lassen, wenn dieses sich mal von seiner Mutter zurückziehen oder entfernen möchte".[14]

Schließlich sei noch eine Feststellung des Biologen und Verhaltensforschers Bernhard Hassenseinstein, Verfasser einer "Verhaltensbiologie des Kindes", zitiert: "Heute kann kein Zweifel mehr bestehen: Persönlichkeitsschäden, wie sie durch bindungsloses Aufwachsen eines kleinen Kindes oder durch mehrmalige Bindungsabbrüche entstehen, beeinträchtigen die Chancen im späteren Leben so stark oder stärker als die schlimmsten sozialen und psychischen Benachteiligungen des späteren Lebens. Aus dieser Tatsache leitet sich der Anspruch eines jeden Kindes auf eine bleibende betreuende Person her, ein Recht auf Familie".[15]

Solche wichtigen Erkenntnisse haben keinen Eingang in den Familienbericht gefunden. Von der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes, von der Störanfälligkeit und Ergebnisoffenheit dieses komplizierten Prozesses, dieses Dramas mit ungewissem Ausgang, ist bezeichnenderweise nirgendwo die Rede. Dabei ist es nicht vorstellbar, daß den Kommissionsmitgliedern, darunter etliche Soziologen, solche Erkenntnisse nicht bekannt sind. Es waren vermutlich die schon vorher feststehenden familienpolitischen Zielsetzungen, die es den Kommissionsmitgliedern ratsam erscheinen ließen, diese Erkenntnisse gar nicht erst anzusprechen.

Kinder in der aktuellen familienpolitischen Perspektive: Problemverursacher

Dieser durch wissenschaftliche Erkenntnisse abgesicherte Blick auf die Entwicklungsbedingungen und die aus ihnen resultierende Bedürfnisse der Kinder fehlt dem Siebten Familienbericht weitestgehend und der Stellungnahme der Bundesregierung vollständig. Aus der Perspektive des Kindeswohls können die in der Stellungnahme der Bundesregierung formulierten familienpolitischen Zielsetzungen nur als herzlos und kindvergessen bezeichnet werden. Aus der Perspektive der Humanwissenschaften sind sie ein Hohn. Etwas pointiert formuliert läßt sich feststellen, daß Kinder im familienpolitischen Kontext primär als Problemverursacher und Störenfriede in Erscheinung treten. Familienpolitik nach den Vorstellungen der Bundesregierung wäre viel einfacher, wenn es keine Kinder gäbe. Daß es ohne Kinder auch keine Familien gäbe und Familienpolitik dann ebenfalls überflüssig wäre, steht natürlich auf einem anderen Blatt.

Natürlich weiß auch die Bundesregierung, daß Kinder erforderlich sind, um die Zukunft der Gesellschaft und damit des Standortes Deutschland zu gewährleisten. Deshalb kann eine Gesellschaft auf Kinder nicht verzichten und darf eine Regierung sie nicht einfach ausblenden (obwohl die Politikgestaltung ohne sie viel einfacher wäre). Nimmt man sie aber in den Blick und hält trotzdem – wie die Bundesregierung – an der primären familienpolitischen Zielsetzung fest, daß Mütter bald nach der Geburt eines Kindes wieder in den Beruf zurückkehren können sollen, weshalb eine Verbesserung der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Wahrnehmung elterlicher Verantwortung oberstes familienpolitisches Ziel zu sein hat, dann treten Kinder in einer solchen Konzeption naturgemäß als Problemverursacher, um nicht zu sagen als Störenfriede auf.

Problemverursacher sind Kinder, weil man sie nicht einfach "ruhigstellen" kann, während die Eltern ihrer Berufstätigkeit nachgehen. Man kann sie nicht einfach unbeaufsichtigt daheim lassen, sondern sie müssen "beaufsichtigt" und "betreut" werden. Das ist das große Problem der aktuellen Familienpolitik: daß Kinder "Betreuung" brauchen. Mehr brauchen sie allerdings anscheinend auch nicht. Von Zuwendung etwa – die etwas grundlegend anderes ist als Betreuung – ist nirgendwo die Rede. Kinder sind in der familienpolitischen Konzeption der Bundesregierung Verursacher eines zu lösenden "Betreuungsproblems". Sie werfen die "Betreuungsfrage" als großes und im Grunde einziges Problem der gesamten Familienpolitik auf. Sobald die "Betreuungsfrage" durch Errichtung von genügend "Betreuungseinrichtungen" beantwortet sein wird, ist für die Bundesregierung die Welt der Familie in Ordnung.

In Wahrheit ist sie keineswegs in Ordnung. Nicht nur für die Kinder, sondern für die gesamte Gesellschaft wird sich der immer deutlicher werdende familienpolitische Trend verhängnisvoll auswirken, weil er mit erschreckender anthropologischer Blindheit geschlagen ist. Er ignoriert wichtige humanwissenschaftliche Erkenntnisse über Bedingungen und Gefährdungen der Persönlichkeitsentwicklung in der frühkindlichen Phase und setzt sich über elementare Bedürfnisse kleiner Kinder unbarmherzig hinweg. Das wird unerwünschte Folgen haben, welche die Bundesregierung sich wird zurechnen lassen müssen, denn sie nimmt sie billigend in Kauf.

Missachtung humanwissenschaftlicher Erkenntnisseund Versagen von Wissenschaftlern

Daß sich Wissenschaftler, die an der Erarbeitung des Siebten Familienberichts mitgewirkt haben, dazu hergeben, diesem aus politisch-ideologischen Gründen gewollten Trend einen wissenschaftlichen Anstrich zu verleihen, ist erschreckend. Es macht deutlich, wie leicht sich Wissenschaft politisch instrumentalisieren läßt. In einer von der Bundesregierung berufenen Kommission mitarbeiten zu dürfen scheint für manche Wissenschaftler so attraktiv zu sein, daß sie dafür ihre kritische Distanz aufgeben. Statt die Politik kritisch-distanziert wissenschaftlich zu begleiten, legitimieren sie einen politischen Trend, der allen einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnissen Hohn spricht. Statt öffentlich dagegen zu protestieren, daß die aktuelle Familienpolitik Kindern die Mütter nimmt, indem sie ihnen systematisch Mutterentbehrung "verordnet" in einer Zeit ihrer Entwicklung, in der sie nichts so dringend brauchen wie Zeit, Zuwendung und Zärtlichkeit ihrer Mutter, tragen sie durch ihre Mitwirkung dazu bei, daß die anthropologische Ignoranz in unserer Gesellschaft bestehen bleibt.

Alle Erkenntnisse der hier relevanten anthropologischen Wissenschaften sprechen gegen den derzeitigen familienpolitischen Trend. Kinder brauchen erheblich mehr als "Betreuung". Soll ihre Persönlichkeitsentwicklung in der sehr störanfälligen frühkindlichen Phase nicht nur störungsfrei, sondern optimal verlaufen, so fordern sie von ihren Eltern viel Zeit, intensive personale Zuwendung, Einfühlung und Zärtlichkeit, wie sie nur liebende Eltern zu geben vermögen, deren Leben nicht permanent von Hektik bestimmt wird. Pestalozzis Forderung gilt heute wie eh und je, denn sie ist anthropologisch begründet. Anthropologische Grundgegebenheiten ändern sich nicht. Sie unterliegen keinem historischen Wandel, sondern haben überzeitliche Gültigkeit. Die Grundbedürfnisse der Kinder sind anthropologischer Art und können sich deshalb den Emanzipationsbedürfnissen ihrer Eltern nicht anpassen.

Es kann prognostiziert werden, als daß unsere Gesellschaft früher oder später Folgen dieser politisch verordneten Mutterentbehrung ihres Nachwuchses zu spüren bekommt. Bereits jetzt weist etwa ein Viertel der Kinder in unserer Gesellschaft zum Zeitpunkt der Einschulung so schwerwiegende Persönlichkeitsentwicklungsstörungen auf, daß sie im Prinzip nicht schul- und bildungsfähig sind. Es muß damit gerechnet werden, daß diese Zahl weiter ansteigen wird. Das bedeutet, daß auch die Zahl der Mitglieder unserer Gesellschaft mit unzulänglichen Bildungsabschlüssen und erheblich eingeschränkter Lebenskompetenz steigen wird.

Angesichts der niedrigen Geburtenrate in unserer Gesellschaft ist dieser familienpolitische Trend auf Kosten der Persönlichkeitsentwicklungschancen des Nachwuchses geradezu absurd. Statt alles daranzusetzen, daß die geborenen Kinder – dieses derzeit knappste "Gut" unserer Gesellschaft - optimale Persönlichkeitsentwicklungsbedingungen in unserer Gesellschaft vorfinden, macht sich die Politik daran, suboptimale Persönlichkeitsbedingungen zu schaffen und für lange Zeit zu zementieren, denkt man an die vorgesehenen Milliarden-Investitionen in "Betreuungseinrichtungen" verschiedener Art.

Zwar hat inzwischen ein intensives Nachdenken darüber begonnen, wie die Geburtenrate sich steigern ließe, um den Trend zur Überalterung bzw. „Unterjüngung“ der Gesellschaft zu stoppen. Aber noch immer unterstellt unsere Gesellschaft und auch die Politik mit unglaublicher Naivität angesichts der sich häufenden Persönlichkeitsentwicklungsschäden bei Kindern, daß eine steigende Geburtenrate zwangsläufig auch eine entsprechend Anzahl lebenskompetenter Erwachsener ergibt. Daß bereits heute die Zahl der Gesellschaftsmitglieder erschreckend hoch ist, die aufgrund ihrer Persönlichkeitsentwicklungsschäden keine volle Lebenskompetenz erlangen können und infolgedessen lebenslang auf die Solidarität der Solidargemeinschaft angewiesen sein werden, wird ignoriert. Da bleibt nur noch die Frage, wie soviel Blindheit möglich ist.

Anthropologische Ignoranz der familienpolitischen Debatte

Diese Blindheit ist Folge einer anthropologischen Ignoranz in der familienpolitischen Debatte in Gesellschaft und Politik. Auch in den Debatten zur Bildungspolitik und zu den Ursachen der Kinder- und Jugendkriminalität sowie der rechts- und linksextremistischen Gewalttaten macht sie sich bemerkbar. All diese Debatten werden geführt, als gäbe es die fundamental bedeutsamen Erkenntnisse über den völlig ergebnisoffenen und sehr störanfälligen Prozeß der frühkindlichen Entwicklung nicht. Diese Erkenntnisse werden ebensowenig ernstgenommen wie die sich häufenden Phänomene von Persönlichkeitsentwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft.[16] Man kann sie in dem Satz zusammenfassen, daß es sich bei der frühkindlichen Entwicklung um ein Drama mit ungewissem Ausgang handelt, weil der Mensch ein "riskiertes Lebewesen" ist, ausgestattet mit der "konstitutionellen Chance zu verunglücken" (Arnold Gehlen)[17], so "daß Menschsein von der Wurzel her total mißlingen kann" (Joachim Illies).[18]

In den öffentlichen Debatten finden diese Erkenntnisse keine konsequente Beachtung. Es dominiert in ihnen de facto – natürlich nicht explizit –, den erwähnten Erkenntnissen zum Trotz, noch immer eine quasi-naturwüchsige Vorstellung über den Prozeß der Persönlichkeitsentwicklung: als ob es sich dabei – wie beim Wachstum des Tieres – lediglich um die Entfaltung eines genetischen Programms handelte, so daß es nur eine Frage der Zeit wäre, bis aus dem neugeborenen Menschenkind ein reifer, erwachsener, humaner Mensch geworden ist, ein mündiger Bürger im demokratischen Staat, ausgestattet mit beruflicher, sozialer, staatsbürgerlicher und moralischer Kompetenz, fähig und bereit zur Übernahme von privater und öffentlicher Verantwortung. Obwohl gegenwärtig für etwa ein Viertel der nachwachsenden Generation zu prognostizieren ist, daß sie diesen Entwicklungsstandard, der dem Menschenbild unseres Grundgesetzes entspricht, nicht oder nur sehr eingeschränkt erreichen werden, hält die öffentliche Debatte weiter an der Fiktion fest, jede Steigerung der Geburtenrate garantiere gleichzeitig einen Zuwachs an Kompetenz im oben definierten Sinn. Sie nimmt nicht hinreichend zur Kenntnis, daß der Gesellschaft durch die zunehmenden Persönlichkeitsentwicklungsstörungen gegenwärtig erhebliche Belastung zuwächst, so daß die Solidargemeinschaft weiter strapaziert wird. Diese Realitätsblindheit ist Folge einer anthropologischen Ignoranz, die solche Fehlentwicklungen nicht einkalkulieren kann, weil sie aufgrund einer naiven, vorwissenschaftlichen – naturwüchsigen – Vorstellung über den Persönlichkeitsentwicklungsprozeß nicht ernsthaft und konsequent mit der Möglichkeit rechnet, "daß Menschsein von der Wurzel her total mißlingen kann" (Joachim Illies).

Anthropologische Aufklärung als dringendes Erfordernis

Diese anthropologische Ignoranz gefährdet gegenwärtig in erheblichem Maße die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft, weil sie eine der entscheidenden Ursachen der gegenwärtigen Krise nicht erkennen und somit auch nicht angemessen reagieren kann. Deshalb ist ihre Überwindung durch anthropologische Aufklärung im Sinn einer intensiven öffentlichen Propagierung wichtiger anthropologischer und humanwissenschaftlicher Erkenntnisse dringend erforderlich. Hier liegt ein wichtiges Aufgabenfeld für die Medien, aber auch für die höheren Schulen. Eine anthropologische Grundbildung muß integraler Bestandteil einer elementaren Allgemeinbildung werden. Unsere Gesellschaft darf es nicht weiterhin dem Zufall überlassen, ob junge Eltern über derartige Elementarkenntnisse verfügen, um wenigstens eine Ahnung davon haben zu können, in welchem Entwicklungsstadium ihr Kind geboren wird, wie störanfällig insbesondere das erste Lebensjahr ihres Kindes ist und wie vielfältig die Faktoren sind, die das Ergebnis des prinzipiell ergebnisoffenen Persönlichkeitsentwicklungsprozesses beeinflussen. Zur anthropologischen Ignoranz unserer Öffentlichkeit ist auch die naive Annahme zu rechnen, daß sich Elternfähigkeit ebenso naturwüchsig einstelle wie die Zeugungs- bzw. Gebärfähigkeit des jungen Menschen. Elternkompetenz muß Ziel der schulischen Bildung und selbstverständlicher Bestandteil einer elementaren Allgemeinbildung sein. In den USA hat sich innerhalb der Sozialisationsforschung eine Sonderdisziplin entwickelt, die sich der Erforschung "biographiezerstörender Lebensweisen" widmet. Sie orientiert sich an drei Kategorien einer gelungenen Sozialisation: elterliche, berufliche und staatsbürgerliche Kompetenz (in dieser Reihenfolge).[19] Von einer solchen Betrachtungsweise ist die deutsche Öffentlichkeit noch weit entfernt. Hier sind ein Bewußtseinswandel und eine Neuakzentuierung unseres Bildungsverständnisses dringend erforderlich.

Inhalt einer erforderlichen anthropologischen Aufklärung

Die dringend gebotene anthropologische Aufklärung müßte zentral bedeutsame Erkenntnisse der erwähnten Wissenschaften umfassen:

1. Erkenntnisse über den Geburtszustand des Menschen: Der Mensch kommt als "natürliche Frühgeburt" zur Welt. Seine Geburt kommt einem "Uterus-Austausch" gleich: Der biologische Uterus wird gegen den "sozialen Uterus" (Familie) ausgetauscht. Die Schwangerschaft dauert im ersten Lebensjahr, dem "extra-uterinen Frühjahr", im Prinzip jedoch noch fort (Adolf Portmann). Deshalb ist der Mensch im ersten Lebensjahr hochgradig in seiner Entwicklung gefährdet, da er "noch nicht zuende geboren ist" (Portmann). Aus diesem Grund braucht er für eine gelingende Entwicklung ein Maß an "Bergung" und Geborgenheit, wie es der biologische Uterus von Natur aus bietet. Deshalb sind alle Einwirkungen auf das Kind (insbesondere auch durch Lärm und optische Reize wie etwa Fernsehen!) an diesem Gesichtspunkt zu messen. Der Geburtszustand des Menschen gleicht einem "plastischen Organismus mit der Möglichkeit der Menschwerdung". Für die Realisierung dieser Möglichkeit der "Menschwerdung des Menschen" übernimmt die "Natur" keine Gewähr. Die Verantwortung dafür trägt die menschliche Gesellschaft, konkret und primär natürlich die Eltern, aber keineswegs nur sie allein.

2. Erkenntnisse über die völlige Ergebnisoffenheit und "Riskanz" des Persönlichkeitsentwicklungsprozesses sowie über die Möglichkeit tiefgreifender Störungen bis hin zum völligen Mißlingen dieses Prozesses: Die Menschwerdung des Menschen im Prozeß der Sozialisation ist etwas grundlegend anderes als die Entfaltung eines genetischen Programms beim Tier, bei dem alle Lebensvollzüge durch das "Instinktprogramm" gesteuert und gewährleistet werden. Das gibt dem Leben der Tiere ein so hohes, zeitüberdauerndes Maß an Stabilität. Der Mensch ist demgegenüber aufgrund seiner "Instinktreduktion" (die wiederum eine Voraussetzung für seine Plastizität und nahezu unbegrenzte Lernfähigkeit ist) ein sehr instabiles, anfälliges und "riskiertes" Lebewesen, ausgestattet mit der "konstitutionellen Chance zu verunglücken" (Arnold Gehlen). Vor allem die gut und verläßlich dokumentierten Beispiele von sogenannten "Wilden Kindern" oder "Wolfskindern" zeigen auf eindrucksvolle Weise, daß ein Gelingen der Menschwerdung des Menschen im Prozeß der Sozialisation durchaus nicht selbstverständlich ist. Sie machen auf die nahezu unbegrenzte Plastizität des "Organismus 'möglicher Mensch'" des Geburtszustands sowie auf die Möglichkeit des partiellen oder auch totalen Scheiterns der Menschwerdung des Menschen im Prozeß der Sozialisation aufmerksam.

3. Erkenntnisse über die Unvermeidbarkeit des gesellschaftlichen Einflusses auf den Prozeß der Menschwerdung des Menschen sowie über die ausschlaggebende Bedeutung der Beschaffenheit des gesellschaftlichen Milieus (Sozialisationsmilieus) für die Resultate dieses Prozesses: Die "Wilden Kinder" zeigen, daß der Mensch in der Frühphase seiner Entwicklung dem Sozialisationsmilieu vollkommen ausgeliefert ist. Er ist für seine Menschwerdung in jeder Hinsicht, selbst für das Erlernen des aufrechten Ganges, auf Vorbilder angewiesen, um von ihnen durch Nachahmung lernen zu können. Dabei kann er sich diese Vorbilder nicht danach aussuchen, ob sie für ihn als Vorbilder zur Nachahmung für die Menschwerdung geeignet sind oder nicht. Er kann nur nachahmen, was er vorfindet. Findet er nur vierbeinig sich fortbewegende Lebewesen in seiner Umgebung vor, so ahmt er diese nach und lernt dann die Fortbewegung auf allen Vieren wie seine "Vorbilder". Dieses Phänomen beweist die nahezu unbegrenzte Plastizität des "Organismus 'möglicher Mensch'" im Geburtszustand.

4. Erkenntnisse der Bindungsforschung über die lebenslange Bedeutung einer stabilen Mutter-Kind-Beziehung: Die Bindungsforschung hat in den vergangenen Jahrzehnten immer deutlicher erkannt, von wie fundamentaler Bedeutung eine stabile Bindung des Menschen ist. Sie bildet sich in der Regel in der Mutter-Kind-Beziehung aus. Als entscheidende Einflußgröße wurde die Feinfühligkeit der Mutter in ihrer Reaktion auf die Bedürfnisbekundungen des Kindes erkannt. Nach den Erkenntnissen der Bindungsforschung entscheidet die Stabilität der frühkindlichen Bindung nicht nur über die spätere personale Bindungsfähigkeit des Menschen, sondern ebenso über seine Fähigkeit zur Bindung an Werte. Die Wertbindung des Menschen wiederum entscheidet maßgeblich darüber, ob er einen Halt im Leben findet oder haltlos bleibt. Auch Konzentrationsfähigkeit, Leistungsmotivation und Leistungsfähigkeit sind entscheidend von einer stabilen Bindung abhängig.

5. Erkenntnisse der Hirnforschung über die Plastizität des Gehirns und die Beeinflussung der frühkindlichen Hirnentwicklung durch das Sozialisationsmilieu: Die Hirnforschung sieht im Gehirn ein plastisches Organ, das sich durch die aus dem Sozialisationsmilieu kommenden Impulse (Sinneseindrücke) weitestgehend selbst organisiert und sich infolgedessen um so effizienter und differenzierter entwickeln kann, je "brauchbarer" und differenzierter die aus dem Sozialisationsmilieu kommenden Impulse sind. Die Entwicklung des Gehirns und die Ausformung seiner Strukturen sind somit aktivitäts- und erfahrungsabhängig.

6. Erkenntnisse der Moralisationsforschung über den Prozeß der Aneignung von Werten, der Entwicklung einer individuellen Moralität und eines persönlichen Gewissens im Verlauf des Sozialisationsprozesses: Moralität und Gewissen sind keine "Naturprodukte", sondern auch sie unterliegen der Plastizität und damit der Formbarkeit durch die Umwelt. Zur "Naturausstattung" des Menschen gehört lediglich eine "moralische Antenne", eine Ansprechbarkeit auf moralische Fragen und ein elementares "Wertempfinden" (Max Scheler). Die Entfaltung dieser Möglichkeiten erfolgt nicht naturwüchsig, sondern durch Impulse aus der Umwelt (insbesondere von den Eltern) und ihre Verarbeitung. Das Ergebnis kann hohe moralische Sensibilität mit entsprechendem Verantwortungsbewußtsein sein. Es kann aber auch weitgehende moralische Unempfänglichkeit mit dem Extremergebnis völliger Gewissenlosigkeit sein. - Kinder können sich bereits sehr früh zu moralischen Wesen entwickeln, die sich für die moralische Urfrage, was richtig oder falsch, gut oder schlecht bzw. böse ist, interessieren. Für eine hinreichende Ausprägung einer individuellen Moralität ist es erforderlich, daß ihre moralischen Rückfragen alters- und situationsangemessen beantwortet werden. Sie dürfen nicht unbeantwortet bleiben.

Menschen unterscheiden bekanntlich in vielerlei Hinsicht; so auch hinsichtlich ihrer moralischen Entwicklung. Der Moralisationsforscher Lawrence Kohlberg unterscheidet insgesamt sechs Stufen der moralischen Reife und des moralischen Urteilsvermögens. Während auf den unteren Stufen die gesellschaftlichen Normen lediglich formal befolgt werden, um die unangenehmen Folgen der Nichtbefolgung zu vermeiden, so daß das Eigeninteresse dominiert und von Moralität im Prinzip noch gar nicht gesprochen werden kann, nehmen Menschen auf der fünften und insbesondere auf der sechsten Stufe unter Umständen Nachteile dafür in Kauf, daß sie ihren moralischen Überzeugungen auch dann folgen, wenn es unbequem oder unerwünscht ist. Wenn ihre moralischen Überzeugungen mit gesellschaftlichen Konventionen in Konflikt geraten, folgen sie ihren Überzeugungen, nicht den Konventionen. Auf Menschen mit diesem moralischen Niveau ist die Gesellschaft in besonderer Weise angewiesen. Denn sie sind es, die im Bedarfsfall die Grenzen der Gewohnheit überschreiten und Innovationen eröffnen. Deshalb muß das Bemühen um Wertevermittlung auf dieses Optimum ausgerichtet sein. Nicht Konformität darf das Ziel sein, sondern Autonomie im recht verstandenen Sinn.

Schlußbemerkungen: Plädoyer für eine kindgerechte Familienpolitik

In der Familienpolitik offenbaren sich eindeutiger als in anderen Politikbereichen die ihr zugrundeliegenden Wertmaßstäbe. Die Bundesregierung erklärt, Familienpolitik "in die Mitte der politischen Anstrengungen in den nächsten Jahren" rücken zu wollen. Die entscheidende Bewertungsfrage soll hier lauten, ob und inwieweit Kinder davon profitieren. Unter diesem Gesichtspunkt ergibt sich, daß eine um 1990 getroffene Feststellung Bernhard Hassensteins weiterhin gültig ist: "Betrachtet man, mit Blick auf die entscheidungswirksamen Wertmaßstäbe, die heutige Situation der Kinder, so rangiert deren Wohl und Wehe weit hinter einer langen Reihe von anderen Werten. Man nimmt Nachteile für Kinder leicht in Kauf, wenn es um die Interessen der Erwachsenen geht [...]. Die Entscheidungen selbst offenbaren unsere entscheidungswirksamen Wertmaßstäbe".[20]

Dabei verkennt die Bundesregierung durchaus nicht prinzipiell, daß es die Kinder sind, die die Zukunftsfähigkeit des Landes gewährleisten (müssen). Sie beschließt ihre Stellungnahme mit der Erklärung, es sei ihr Ziel, "mehr Kinder in die Familien und mehr Familien in die Gesellschaft zu bringen". Dafür sei eine "Aufwertung der Familien sowie eine Familienpolitik (erforderlich), die neue Wege geht". Dann heißt es: "Kinder sind Ausdruck für Vertrauen in die Zukunft. Dieses Vertrauen ist wichtige Voraussetzung dafür, damit Menschen wieder Mut bekommen, in die Zukunft zu investieren und zu planen. Eine nachhaltige Familienpolitik muß Mut machen, sich für Kinder zu entscheiden, Kinder von Anfang an besser zu fördern sowie gefährdete und vernachlässigte Kinder stärker in den Blick zu nehmen".[21

Gerade dieser Schlußsatz offenbart noch einmal anthropologische Unkenntnis. Sie ergibt sich aus der Erklärung, "Kinder von Anfang an besser fördern" zu wollen, sowie aus der darin implizit enthaltenen Überzeugung, dies sei auch dann möglich, wenn man sie gleichzeitig zur Mutterentbehrung verurteilt. Damit ignoriert man die einschlägigen und eindeutigen wissenschaftlichen Erkenntnisse über die fundamentale und unersetzbare Bedeutung präsenter Mütter für ein optimales Gelingen der Persönlichkeitsentwicklung der Kinder in den ersten drei Lebensjahren. Es ist auch bezeichnend, daß nicht von Persönlichkeitsentwicklung die Rede ist, sondern von Förderung. Dabei ist dann wohl an institutionalisierte Förderung im Sinne sekundärer Sozialisation gedacht. Ihr muß aber eine gelingende Primärsozialisation des Kindes durch das Zusammenleben mit den Eltern in der Familie vorausgehen. In den ersten Lebensjahren, der Zeit der primären Sozialisation, geht es kaum um Förderung, sondern zunächst und hauptsächlich um Persönlichkeitsentwicklung im Sinn einer Ausprägung von Persönlichkeitsmerkmalen, die entscheidende Voraussetzungen für eine erfolgreiche weitere Förderung sind.

Das Kind tritt in der aktuellen Familienpolitik nur als der Förderung bedürftig in Erscheinung. Ausgeblendet bleibt die einer möglichen und erfolgreichen Förderung vorausgehende wichtige frühkindliche Phase einer elementaren Persönlichkeitsentwicklung, in der es um grundlegende Persönlichkeitsmerkmale wie Urvertrauen, Bindungssicherheit, Selbstvertrauen, Ich-Stärke, Konzentrationsfähigkeit, geistige Wachheit, Interessiertheit ("Wißbegierde"), Hingabefähigkeit an eine "Sache" und weitere persönlichkeitsentwicklungsbedingte Voraussetzungen für eine erfolgreiche Förderung geht.

Dieser aus anthropologischer Ignoranz resultierende blinde Fleck in der Familienpolitik muß durch anthropologische Aufklärung der Öffentlichkeit überwunden werden! Familienpolitik muß sich eindeutiger und konsequenter von den einschlägigen humanwissenschaftlichen Erkenntnissen über die fundamentale Bedeutung der frühkindlichen Entwicklung für das weitere Leben bestimmen lassen. Das bedeutet insbesondere, daß die Erkenntnisse über die Bedeutung präsenter, kindzugewandter, einfühlsamer Mütter ernst genommen werden müssen.

Sobald diese Erkenntnisse durch ihre Propagierung integraler Bestandteil des öffentlichen Bewußtseins geworden sind, wird der unausbleibliche Bewußtseinswandel zwangsläufig zu einer anderen Beurteilung der Berufstätigkeit von Müttern kleiner Kinder führen. Würden junge Frauen als Mütter in einem derart durch Bewußtseinswandel veränderten öffentlichen Klima hohe Wertschätzung und Rücksichtnahme – vor allem bei der Wiedereingliederung ins Berufsleben - erfahren, so würde es ihnen leichter fallen, wenn es nicht gar selbstverständlich würde, ihre Berufstätigkeit für einige Jahre zu unterbrechen, um den "Mütterlichkeits-Anforderungen" ihrer kleinen Kinder im Sinn von Hans Joachim Maaz vollauf entsprechen zu können. Ein solcher Klimawandel würde wohl auch bewirken, daß mehr junge Paare als gegenwärtig den Mut fänden, ihren Kinderwunsch zu realisieren. Noch erheblich einschneidender wären die Folgen, wenn es eines Tages gelänge, die Mutterentbehrungsschäden kleiner Kinder sichtbar zu machen und zu verobjektivieren wie körperliche Befindlichkeiten, etwa die Temperatur. Dann wäre die gegenwärtige, teilweise ideologisch überfrachtete Diskussion über das Pro und Contra einer Berufstätigkeit von Müttern kleiner Kinder schlagartig beendet. Solange es diese Möglichkeit nicht gibt, sollten sich alle, die Verantwortung für die Persönlichkeitsentwicklungsbedingungen kleiner Kinder in unserer Gesellschaft tragen - vor allem Eltern und Politiker - verpflichtet fühlen, einschlägige wissenschaftliche Erkenntnisse ernst zu nehmen – auch und vor allem dann, wenn sie die eigene vorgefaßte Meinung in Frage stellen.

Es bleibt zu hoffen, daß der erforderliche Bewußtseinswandel einen breiten gesellschaftlichen Konsens darüber herbeiführt, daß eine Familienpolitik, die auf Mutterentbehrung kleiner Kinder hinausläuft, nicht nur gegen das Kindeswohl verstößt, weil sie Kindern optimale Persönlichkeitsentwicklungsbedingungen verweigert, sondern zugleich auch die Zukunftsfähigkeit des Landes gefährdet.


[1] Vgl. Siebter Familienbericht. Familie zwischen Flexibilität und Verläßlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik, fertiggestellt im August 2005, der Öffentlichkeit übergeben am 25.04.2006 zusammen mit der Stellungnahme der Bundesregierung zum Siebten Familiengericht; Zitat auf Seite 7 der Stellungnahme.

[2] Vgl. Johannes Schwarte: Der werdende Mensch. Persönlichkeitsentwicklung und Gesellschaft heute. Wiesbaden 2003.

[3] Bernhard und Helma Hassenstein: Was Kindern zusteht, 3. Aufl. München 1990, S.174.

4] Hans-Joachim Maaz ist Leiter der Psychotherapeutischen Klinik in Halle und hat nach der Wende großes Aufsehen erregt mit einer Veröffentlichung über die "charakterdeformierenden Wirkungen der Kollektiverziehung" unter dem Titel "Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR" (München 1992). Es ist bezeichnend für den vorherrschenden Trend in der gegenwärtigen familienpolitischen Debatte, daß diese sehr gründliche und im Ergebnis vernichtende Analyse der Auswirkungen der Kinderbetreuungseinrichtungen der DDR kaum erwähnt wird. Statt dessen gehört es nahezu zu den rhetorischen Pflichtübungen der "Political Correctness", diese Einrichtungen als eine der wenigen "Errungenschaften" der DDR zu preisen, die nach der Wende nicht gebührend gewürdigt worden seien.

[5] Hans-Joachim Maaz: Der Lilith Komplex. Die dunklen Seiten der Mütterlichkeit, München 2005, Ebd., S.7.

[6] Ebd., S.45.

[7 Siebter Familienbericht, S.221.

[8 Ebd., S.276.

[9 Ebd., S.224.

[10 Ebd.

[11] Stellungnahme..., S.7.

[12] Siebter Familienbericht, S.49.

[13] Stellungnahme ..., S.9.

[14] Hans-Joachim Maaz. Der Lilith Komplex, a.a.O., S.81.

[15] Hassenstein, a.a.O., S.107.

[16] Vgl. dazu Johannes Schwarte: Entzivilisierungsphänomene bei Kindern und Jugendlichen. In: Die Neue Ordnung 54, 1/2000; ferner Johannes Schwarte: Gewalttätigkeit als Folge von Sozialisationsdefiziten. Plädoyer für eine staatliche Sozialisationspolitik. In: Alexander Böhm / Heribert Helmrich / Josef Kraus / Fred Krause / Ralf Schmid / Johannes Schwarte / Hans-Dieter Schwind: Jugendkriminalität – Herausforderung für Staat und Gesellschaft, Sankt Augustin: Konrad-Adenauer-Stiftung 1997 (Heft 48 der "Aktuellen Fragen der Politik"); schließlich Johannes Schwarte: Identität und Gewalttätigkeit. In: Die Neue Ordnung 54, 6/2000.

[17] Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1950), 14. Aufl. 2004 Wiebelsheim, S.32.

[18] Joachim Illies: Sozialisation bei Tieren und Menschen. In: Erziehungsnotstand? Sozialisation in Konsens und Diskussion, Köln 1976, S.46.

[19] Vgl. dazu Gerhard Schmidtchen: Wie weit ist der Weg nach Deutschland? Sozialpsychologie der Jugend in der postsozialistischen Welt, Opladen 2. Aufl. 1997, S. 282ff.

[20] Hassenstein, a.a.O., S.173.

[21] Stellungnahme..., S.29f.

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5. Engagement für einen Paradigmenwechsel in der Bildungsdebatte