6. Wortmeldungen
Frankfurter Allgemeine
Zeitung vom 29.07.1994
Der Trick mit dem Ausgrenzungs-Vorwurf
Zu den Artikeln "Die Ehre - Der 20. Juli und seine
Feinde" von Jens Jessen (F.A.Z. vom 20. Juli) und "Neuestes
Deutschland - die PDS triumphiert im Kulturkampf" von Frank Schirrmacher
(F.A.Z. vom 22. Juli): - "Schon
muß sich rechtfertigen, wer Ulbricht und Pieck nicht gleichberechtigt an die
Seite Stauffenbergs und Goerdelers zu stellen bereit ist", schreibt Frank
Schirrmacher. In der Tat, wer hätte sich eine solche Debatte im Herbst 1989
vorstellen können. Man fragt sich, wie es dahin kommen konnte. Insbesondere
fragt man sich, woher die Unentschlossenheit und Halbherzigkeit in der
Zurückweisung des "Ausgrenzungs"-Vorwurfs kommt. Daß die PDS aufgrund
ihrer ideologischen Tradition, in der der "Antifaschismus" immer ein
Tarnbegriff war, hinter dem Ulbricht seine Absicht zu verbergen trachtete, eine
weitere Diktatur in Deutschland zu errichten, eine Interpretation des Begriffs
"Widerstand" durchdrücken möchte, wonach die bloße Gegnerschaft zu
Hitler und zum Nationalsozialismus in sich selbst bereits etwas so Wertvolles
darstellt, daß weitere Fragen nach den Motiven und Zielsetzungen gar nicht erst
zulässig sein sollen, verwundert nicht weiter. Daß ihr aber vermittels der
Tarnvokabel "Ausgrenzung" eine solche Stimmungsmache weit über den
Kreis ihrer Anhängerschaft hinaus gelingen konnte, ist verwunderlich und
besorgniserregend. Zeigt es doch, wie es um das Urteilsvermögen in unserer
Öffentlichkeit bestellt ist. Noch besorgniserregender ist aber, daß
"niemand widerspricht", wie Schirrmacher zu Recht schreibt.
"Dieses Schweigen, dieses Ausbleiben von Widerspruch kennzeichnet die
Lage." Schlimmer noch: Statt fälligen Widerspruch gegen den
"Ausgrenzungs"-Vorwurf vorzutragen, beeilten sich nicht wenige
unserer Politiker, nun auch ihrerseits vor einer "Ausgrenzung" von
Teilen des Widerstandes zu warnen.
Selbst der Bundeskanzler war an jener Stelle seiner Rede am
20. Juli im Bendlerblock, in der er den Ausgrenzungs-Vorwurf indirekt aufnahm,
bemerkenswert zurückhaltend (oder argumentationsunsicher?), indem er sagte:
"In dem Wofür liegt das Vermächtnis, auf das wir uns im vereinten
Deutschland gemeinsam beziehen." Das hätte er durchaus deutlicher sagen
können und sollen: Widerstand stellt keinen Wert in sich selbst dar, auch dann
nicht, wenn er sich die Beseitigung eines Verbrechers wie Hitler zum Ziel
setzt. Hätte Himmler ein Attentat auf Hitler unternommen, um die Macht
seinerseits zu usurpieren, so wäre wohl niemand auf die Idee gekommen, ihn dem
Widerstand zuzurechnen. Widerstand bezieht seine moralische Rechtfertigung und damit
auch seinen Vorbildcharakter erst aus der Absicht, "das Recht
wiederherzustellen", wie es die "Männer des 20. Juli" wollten.
(Ihre sonstigen konkreten politischen Pläne sind demgegenüber in der
nachträglichen Bewertung irrelevant.) Was aber wollte Ulbricht? Ein Blick auf
die Politik, die später zu betreiben ihm die Umstände ermöglichten, zeigt dies
mit aller Deutlichkeit und verbietet es, ihn neben Stauffenberg zu stellen.
Die durch den gegenwärtigen "Kulturkampf"
geforderte "Rechtfertigung" der "Ausgrenzung" Ulbrichts im
Sinne der Verweigerung einer gleichberechtigten Zuordnung zu den "Männern
des 20. Juli" sollte nicht schwerfallen. Jeder historisch aufgeklärte
Deutsche müßte imstande sein, diese "Rechtfertigung" zu liefern,
sofern er den Mut hat, Klartext zu reden. Dazu genügen zwei Hinweise: erstens
der Hinweis auf die
Kontinuität der Konzentrationslager Bautzen und Buchenwald: Während die
"Männer des 20. Juli" bereits in den ersten
"Walküre"-Anordnungen die Auflösung der Konzentrationslager in
Angriff nahmen, hat Ulbricht die beiden genannten Lager "weiterverwendet",
um politische Gegner unschädlich zu machen. Zweitens der Hinweis auf den Volksaufstand
im Juni 1953
gegen Ulbricht und seine Politik: Welche Absurdität, einen Mann
als Widerstandskämpfer ehren zu wollen, der später selbst Panzer gegen Menschen
einsetzte, die sich zum Widerstand gegen seine Politik genötigt sahen, weil sie
unmenschlich war und demokratische Rechte verweigerte! Welche Absurdität, dies
heute überhaupt begründen zu müssen!
Dr. Johannes Schwarte, Münster
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Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 18.01.1997
Für die familiale
Sozialisation blind geworden
Der Artikel von Johannes Weiß "Damit es wieder
Überraschungen gibt" (F.A.Z., "Geisteswissenschaften" vom 8.
Januar) war überfällig. Es geht bei dem Versuch der Wiederherstellung der
verlorengegangenen Kreditwürdigkeit der Soziologie um weit mehr als um das
gesunkene Ansehen der Soziologen. Es geht darum, daß unsere Gesellschaft auf
die Beiträge der Soziologie bei der Bewältigung gegenwärtiger Probleme nicht
verzichten kann, ganz unabhängig davon, ob sie davon inzwischen noch überzeugt
ist oder nicht. Denn die spezifischen Fragen der Soziologie werden so
woanders eben nicht gestellt. Darum ist es wichtig, daß die Soziologie ihre
Fragen auch dann stellt und in die gesellschaftliche Debatte einbringt, wenn
schon vorher unbequeme Antworten zu erwarten sind, und daß sie sich selbst
keine Denk- und Frageverbote auferlegt, die von politischen Vorentscheidungen
und Opportunitäten im Sinne des Palmström-Axioms, "daß nicht sein kann,
was nicht sein darf", diktiert sind.
Die fehlende soziologische Dimension in gesellschaftlichen
Debatten macht sich inzwischen auch in regierungsamtlichen Dokumenten
bemerkbar, wie etwa ein Vergleich des Zweiten Familienberichts der Bundesregierung
aus dem Jahre 1975 mit dem Fünften Familienbericht aus dem Jahre 1994 zeigt: Während der
erstere unter der Leitfrage abgefaßt war, wie es um die Sozialisationsleistungen
der Familien in unserer Gesellschaft bestellt und was zu tun sei, um sie in dieser
von ihnen für die Gesellschaft zu erfüllenden wichtigen Aufgabe zu unterstützen
- mit der bemerkenswerten Konsequenz, daß Familienpolitik als
"Sozialisationspolitik" definiert wurde -, zeichnet sich der letztere
durch "Sozialisationsblindheit" aus. Der Begriff
kommt kaum noch vor. Er wird überhaupt nur noch verwandt mit Bezug auf die
Fragestellung, inwieweit die familialen Sozialisationsleistungen ausreichend
seien, um den "Wirtschaftsstandort Deutschland" zu sichern. Die in
ihrer Reichhaltigkeit und Differenziertheit beeindruckenden Ausführungen im
Zweiten Familienbericht zu den familialen Sozialisationszielen, die aus dem
Menschenbild unserer Verfassung hergeleitet wurden, sind im Fünften Familienbericht
in dem
verräterischen ökonomischen Begriff der "Schaffung von Humankapital"
zusammengeschrumpft. Hier hat sich nicht lediglich semantisch etwas verändert,
sondern hier ist eine wichtige Perspektive verlorengegangen, die unbedingt
wieder zurückgewonnen werden muß, damit unsere Gesellschaft dem erschreckenden
Phänomen der zunehmenden Rebarbarisierung und Gewalttätigkeit nicht weiterhin
so ratlos gegenübersteht wie bisher.
Dr. Johannes Schwarte, Münster
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Frankfurter Allgemeine
Zeitung vom 06.09.2000
Politisch maskierte Gewalttaten
Christian Geyers Hinweis auf die Bedeutung der öffentlich
geäußerten Empörung über die Gewalttaten in seinem Beitrag
"Zerreißprobe" (F.A.Z.-Feuilleton vom 5. August) ist nicht nur unter
dem Gesichtspunkt der Konsensbekundung und der Selbstvergewisserung des Gemeinwesens
von Bedeutung, sondern auch zur Dementierung des absurden Anspruchs der
Gewalttäter, klammheimliche Vollstrecker eines unartikulierten Volkswillens zu
sein. Im Anschluß an den wichtigen Hinweis Geyers auf die Labilität eines Teils
der Mitglieder gewalttätiger Gruppen ("Die Mühen der Ächtung",
F.A.Z.-Feuilleton vom 10. August), die sich in die Gewaltszene hineinziehen
lassen, ohne gleichermaßen ideologisch verbohrt zu sein wie die Anführer und
die daher keineswegs endgültig für die Zivilisation und die Demokratie verloren
sind, sondern durch entschiedene und rasche Sanktionen durchaus zu
"beeindrucken" und "zurückzuholen" sind, ist auch zu
bedenken, wie problematisch es ist, solche Gruppierungen so selbstverständlich,
wie das in der Regel geschieht, ins politische Spektrum einzuordnen und sie als
"Rechtsextremisten" oder "Neonazis" zu bezeichnen. Denn die
Täter werden ungewollt aufgewertet und festgelegt, wenn ihnen die
Öffentlichkeit zuerkennt, was ihnen gerade fehlt: Identität.
Es wäre wichtig, den psychologischen Mechanismus zu
durchschauen und in Rechnung zu stellen, der bewirkt, daß aus mangelnder
Identität und Persönlichkeitsstärke Gewalttätigkeit wird: Dieser Mangel weckt
das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu Gruppen, die durch "Eindeutigkeit"
in der Wirklichkeitsbeurteilung, "Entschiedenheit" im Handeln und
extrem autoritäre Strukturen ersatzweise "Identitätsprothesen" zur
Verfügung stellen und damit den Persönlichkeitsmangel kompensieren. Deshalb
müßte die Analyse der Ursachen eher in psychologischer als in politischer Perspektive
erfolgen, dürften die Täter nicht so selbstverständlich als
"Rechtsextremisten" oder "Neonazis" bezeichnet werden,
sondern müßten Bezeichnungen erhalten, die ihre Persönlichkeitsdefizite
signalisieren wie etwa: Chaoten, Zivilisationsfeinde, Menschenverächter, Mörder.
Solange die öffentliche Debatte auf die
"politischen" Äußerungen der Gewalttäter fixiert bleibt und jeden
Mummenschanz "politisch" nimmt, wird sie nicht zur Erörterung der
tieferliegenden Ursachen gelangen. Politische Motivforschung ist fehl an
Platze, wo es gilt, Zivilisationsfeindschaft und Barbarei zur Kenntnis zu
nehmen. Zu fragen ist nicht primär, aus welchen "politischen Motiven"
heraus die Untaten zu erklären sind und woher sie kommen, sondern unter welchen
gesellschaftlichen Bedingungen sich die Persönlichkeitsentwicklungsprozesse
der Gewalttäter mit erschreckenden zivilisationsfeindlichen,
barbarischen Potentialen vollzogen haben. Nicht wie Menschen sich politisch so verirren können
ist die eigentliche Frage, sondern aufgrund welcher Umstände Menschen so werden
können, daß sie der Zivilisation eine radikale Absage erteilen.
Die politisch maskierten Gewalttaten müssen im größeren
Zusammenhang der zunehmenden Gewalttätigkeit sowie der zunehmenden Kinder- und
Jugendkriminalität gesehen und erörtert werden. Jüngste Gewalttaten ohne
"politische" Maskierung sind hier besonders aussagekräftig. Das
bedeutet auch, daß ein Parteienverbot, ungeachtet der verfassungsrechtlichen
Bedenken, die Ulrich K. Preuß im Beitrag "Die empfindsame Demokratie"
(F.A.Z.-Feuilleton vom 22. August) dargelegt hat, allenfalls die Symptome
unterdrücken und die Täter in den Untergrund treiben könnte, aber zur
Bekämpfung der Ursachen nichts beitragen würde. Leser Aloys Lenz weist in
seinem Brief "Verbot der NPD - eine zweischneidige Forderung" (F.A.Z.
vom 29. August) mit Recht darauf hin, daß es keine einfache Lösung gibt,
"den braunen Sumpf erfolgreich trockenzulegen", und daß es
vielfältiger Anstrengungen nicht nur der Politik, sondern der gesamten
Gesellschaft bedarf. Mehr als alles andere braucht unsere Gesellschaft einen
neuen Blick auf den Menschen und seine bleibende Labilität, auf die vielfältigen
Möglichkeiten der Fehlentwicklung.
Frankfurter Allgemeine
Zeitung vom 26.05.2003
Schwere
Gewissensentscheidung
Die Öffnung der vatikanischen Archive Mitte Februar hat
neben einem Zugewinn an Detailinformationen über prinzipiell bereits Bekanntes
auch eine Wiederbelebung von Spekulationen über Sachverhalte zur Folge, die
längst geklärt sind. In rascher Folge hat Hubert Wolf in den vergangenen Wochen
über einige Details aus den neu zugänglichen Dokumenten informiert, die für die
Öffentlichkeit von großem Interesse sind und bisherige Kenntnisse der
Historiker verfeinern und erweitern. Leider wird in seinen Veröffentlichungen
nicht immer hinreichend deutlich, was daran neu ist, wo die bisherigen
Kenntnisse bestätigt und wo sie modifiziert werden. Dies gilt insbesondere für
seinen Artikel "Vertagt auf unbestimmte Zeit" (F.A.Z. vom 12. April).
Es wäre sinnvoll gewesen, die Öffentlichkeit auch darüber noch zu informieren,
daß sie nicht die einzige Äußerung zum Rassismus geblieben ist. Am 13. April
1938 erhielten alle katholischen Einrichtungen und Bischöfe im Auftrag Papst
Pius' XI. ein Schreiben mit der Aufforderung, der rassistischen Lehre, die in
zehn Thesen zusammengefaßt vorgestellt wurde, offensiv-argumentativ
entgegenzutreten. Im übrigen ließ Pius XI. dieses Schreiben mit den zehn
zurückzuweisenden Thesen ganz bewußt ausgerechnet am 3. Mai 1938 im Osservatore
Romano zur "Begrüßung" Hitlers veröffentlichen, der an diesem Tag zum
Staatsbesuch in Rom eintraf. Pius XI. selbst zog sich rechtzeitig nach Castel
Gandolfo zurück, weil ihm, wie er öffentlich erklären ließ, "in Rom die
Luft unerträglich" sei. Er ließ darüber hinaus die vatikanischen Museen
für die Tage des Führerbesuchs schließen und verbot das Hissen der
nationalsozialistischen Flagge auf allen kirchlichen Gebäuden. Leser Francesco Merlino (F.A.Z. vom 28. April)
wurde von mir bereits vor etlichen Jahren an anderer Stelle darauf hingewiesen,
daß seine nun in seinem Leserbrief wiederholte Behauptung, es habe zwei
unbrauchbare Entwürfe zu einer Enzyklika gegen den Rassismus gegeben, nicht
zutreffe. Der authentische Text steht der Öffentlichkeit seit meiner
Veröffentlichung über den Jesuiten Gustav Gundlach im Jahre 1975 vollständig
zur Verfügung, so daß sich jeder selbst ein Urteil bilden kann.
So bestimmt Rolf Hochhuths Schauspiel "Der
Stellvertreter" für viele Menschen nach wie vor das öffentliche
Geschichtsbild mehr als die Ergebnisse der historischen Forschung, die längst
ein sehr differenziertes Bild Papst Pius' XII. gezeichnet haben, speziell
hinsichtlich seines Verhaltens während des Zweiten Weltkrieges. Zwar kann auch
sie das Faktum nicht bestreiten, daß Pius XII. bewußt auf die Veröffentlichung
des fertigen Entwurfs einer Enzyklika gegen den Rassismus verzichtet und auch
ebenso bewußt eine öffentliche Anprangerung der nationalsozialistischen
Verbrechen unterlassen hat. Sie zeigt allerdings, daß Pius XII. glaubte, eine
öffentliche Anprangerung unterlassen zu müssen, um noch größere Übel zu
verhindern ("ad maiora mala vitanda"). Natürlich kann und darf
darüber kontrovers diskutiert werden, ob diese Entscheidung richtig war; aber
es darf dabei nicht außer acht bleiben, daß es für ihn eine
schwere Gewissensentscheidung war, die er so und nicht anders getroffen hat. Das kann
man gewiß nicht von allen historisch anfechtbaren Entscheidungen sagen.
Dr. Johannes Schwarte, Münster
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Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
vom 30.11.2003
Gefährlich
Zu "Alter, verpiß dich!" von Matthias Heine (23.
November):
Ungeachtet mancher Überzeichnungen liefert der Artikel einen
wichtigen Beitrag zur Analyse der gegenwärtigen kritischen Situation unserer
Gesellschaft. Denn er zeigt, daß wir nicht nur in einer Krise des Arbeitsmarktes,
des Gesundheitswesens und der sozialen Sicherungssysteme stecken, sondern auch
- vielleicht sogar vor allem - in einer psychischen beziehungsweise
Mentalitätskrise. Die Folgen der unübersehbaren Infantilisierungstendenzen in
unserer Gesellschaft sind vielfältiger Art und in ihrer Bedeutung kaum
abzuschätzen. Und doch ist dieses Phänomen bisher kaum Gegenstand der
öffentlichen Erörterung. Vielmehr tragen nicht zuletzt auch die Medien zu seiner
weiteren Verbreitung und - was noch gravierender ist - zu seiner "Normalisierung"
bei. Da wird selbst in den öffentlich-rechtlichen Sendern, deren
Aufgabe es wäre, kritisch über dieses Phänomen zu berichten und in diesem Sinne
aufzuklären, durch die Berichterstattung über den Rummel beim Erscheinen des
jeweils neuesten "Harry Potter" eine Sogwirkung erzeugt, die beim
durchschnittlichen Fernsehzuschauer inzwischen ein erhebliches Maß an innerer
Unabhängigkeit erfordert, wenn er dagegen immun bleiben will. Wagt es jemand,
auf die Gefahren solcher Sogwirkungen aufmerksam zu machen, wie dies jüngst
Kardinal Ratzinger unter einem ganz bestimmten Aspekt getan hat, so weiß ein
Großteil unserer Presse darauf nicht anders zu reagieren als mit Hohn und
Spott, statt sich auf eine ernsthafte Diskussion über die Folgen des
Harry-Potter-Phänomens und anderer Infantilisierungsphänomene, von denen
Matthias Heine einige aufgezeigt hat, einzulassen.
Dr. Johannes Schwarte, Münster
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Frankfurter Allgemeine
Zeitung vom 29.08.2005
Paradigmenwechsel in der Bildungsdebatte
Es ist zu wünschen, daß der Artikel "Das Ende der
Kindheit" von Andreas Kilb (F.A.Z. vom 12. August) den Auftakt zu einer
sehr grundsätzlichen Debatte darüber bildet, welche Persönlichkeitsentwicklungsbedingungen
unsere Gesellschaft ihrem Nachwuchs bietet. Zwar wird inzwischen darüber
debattiert, wie es gelingen könnte, die Geburtenrate wieder zu steigern, um den
Trend zur Überalterung der Gesellschaft zu stoppen. Aber noch immer geht unsere
Gesellschaft viel zu selbstverständlich davon aus, daß aus ihren neugeborenen
Mitgliedern dereinst lebenstüchtige und mündige Bürger werden. Sie nimmt die
seit vielen Jahren ständig weiter ansteigende Anzahl von Kindern mit so
gravierenden Persönlichkeitsentwicklungsstörungen, daß ihre Bildungsergebnisse
defizitär sein müssen, nicht zur Kenntnis. Die durch den Pisa-Schock ausgelöste
Bildungsdebatte stellt vielerlei Ursachenvermutungen an; aber die Frage, ob
womöglich die Hauptursache in der höchst mangelhaften Persönlichkeitsentwicklung
vieler Schulkinder liegen könnte, wird kaum gestellt. Die Debatte hält an der
Fiktion gegebener Schulfähigkeit der Schulkinder fest, als seien sie heute wie
eh und je. Daß nach Schätzungen von Experten etwa zwanzig Prozent zu den
"neuen Kindern" mit erheblichen Defiziten in verschiedenen Bereichen
(Konzentrations- und Sprechvermögen, Sozialverhalten) zu rechnen sind, wird
nicht zur Kenntnis genommen.
Abhilfe setzt eine klare Kenntnis der Ursachen voraus. Dazu
enthält der Artikel eine wichtige Feststellung: "Jene autistische
Asozialität, jene Unempfindlichkeit für die Wünsche und Schmerzen anderer, jene
Kompromiß- und Kommunikationsunfähigkeit, von der immer mehr Grundschullehrer
berichten, ist kein individuelles, sondern ein allgemeines, schichtübergreifendes
Syndrom". Wichtiger noch als die gegenwärtig im Vordergrund stehenden
Fragen nach Verbesserungsmöglichkeiten der Organisation schulischer
Lernprozesse sind die kaum gestellten nach den erforderlichen
Persönlichkeitsmerkmalen als Voraussetzungen für erfolgreiche Bildungsprozesse,
welche die Schüler bereits in die Schule "mitbringen" müssen:
Angstfreiheit, seelische Ausgeglichenheit, Ich-Stärke, Konzentrationsfähigkeit,
geistige Wachheit, Neugierverhalten (Interesse), Leistungsmotivation und
nachhaltige Leistungsfähigkeit.
Soll die Schule ihren Bildungsvermittlungsauftrag
erfolgreich erfüllen, so muß sie diese Persönlichkeitsmerkmale bei den Schülern
voraussetzen können. Defizite in diesen Bereichen kann sie kaum noch
ausgleichen. Der dringend erforderliche Paradigmenwechsel in der Bildungsdebatte
muß darin bestehen, daß der erfolgreichen Persönlichkeitsentwicklung der Kinder
mindestens die gleiche Aufmerksamkeit zuteil wird wie der Förderung ihrer
Intelligenz (deren Bedeutung für den Bildungserfolg tendenziell oft überschätzt
wird). Da die für den Bildungserfolg entscheidenden Persönlichkeitsmerkmale
bereits in der frühkindlichen Entwicklungsphase ausgeprägt werden, müssen die
sehr störanfälligen und ergebnisoffenen frühkindlichen Persönlichkeitsentwicklungsprozesse
und ihre gesellschaftlichen "Rahmenbedingungen" in den Blick genommen
und, was letztere betrifft, der Kritik unterzogen werden. Dafür wiederum ist
eine bessere anthropologische Aufklärung der Öffentlichkeit im Sinne einer
Vermittlung wichtiger Erkenntnisse der anthropologischen Wissenschaften über
die Ergebnisoffenheit und Anfälligkeit des Persönlichkeitsentwicklungsprozesses
für Störungen dringend erforderlich. In dieser Hinsicht gibt es erhebliche
Defizite im öffentlichen gesellschaftlichen Bewußtsein. Unsere Gesellschaft
verhält sich, als ob es die Erkenntnisse über die vielfältigen negativen
Einflüsse auf die Ergebnisse der Persönlichkeitsentwicklungsprozesse nicht
gäbe.
Es dominiert anscheinend noch immer eine quasi-naturwüchsige
Vorstellung über den Vorgang der Persönlichkeitsentwicklung: als ob es nur eine
Frage der Zeit wäre, bis aus dem neugeborenen Menschenkind eine reife
Persönlichkeit und ein mündiger Bürger geworden ist. Unsere Gesellschaft
verhält sich, als glaubte sie nicht ernsthaft daran, "daß Menschsein von
der Wurzel her total mißlingen kann", wie der Biologe und
Sozialisationsforscher Joachim Illies festgestellt hat. Eine Überwindung dieser
unangemessenen naturwüchsigen Sichtweise durch Aneignung von anthropologischen
und sozialisationstheoretischen Erkenntnissen ist dringend erforderlich. Die
Betrachtung des Persönlichkeitsentwicklungsprozesses in
sozialisationstheoretischer Perspektive öffnet den Blick für die
Ergebnisoffenheit und Störanfälligkeit dieses Prozesses und schärft das
Bewußtsein dafür, daß all jene gesellschaftlichen Faktoren, die - zumeist
ungewollt - Einfluß auf die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und
Jugendlichen nehmen, auch eine Mitverantwortung für die Ergebnisse haben.
Daraus wiederum müßten sehr weitreichende gesellschaftliche, politische und
(straf)rechtliche Konsequenzen gezogen werden, die hier nicht weiter dargelegt
werden können.
Dr.
Johannes Schwarte, Münster
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Frankfurter
Allgemeine Sonntagszeitung vom 3.12.2006
Willige
Gutachter
Leserbrief zum Artikel "Mit aller Gewalt" von Anna von Münchhausen und Julia Schaaf (FAS
vom 26.11. 2006):
Es gibt in unserer Gesellschaft mancherlei Absurditäten.
Dazu zählt auch die endlose Debatte über das Pro und Contra eines Verbots von gewaltverherrlichenden
Filmen, "Spielen" und sogenannten "Killerspielen". Vor
Jahren wies ein Experte darauf hin, daß zu dieser Frage in Deutschland inzwischen
weit über einhundert (!) Gutachten pro und contra verfaßt worden seien. Diese
Debatte wird - das kann vorhergesagt werden - endlos weitergehen, solange es
hingenommen wird, daß die Gewaltproduzentenlobby eindeutige Kausalnachweise
hinsichtlich eines Zusammenhangs zwischen ihren Produkten und der hohen
Gewalttätigkeitsschwelle in unserer Gesellschaft fordert. Sie wird auch weiterhin
noch so gewichtige wissenschaftliche Ergebnisse durch
"Gegengutachten" zu entkräften versuchen und sich in dieser Beziehung
nicht lumpen lassen, denn es steht für sie viel auf dem Spiel. Es ist an der
Zeit, daß die Politik diese Absurdität durch einen mutigen Schritt beendet und
die Produktion und den Vertrieb gewaltverherrlichender Filme und
"Spiele" prinzipiell verbietet, und zwar mit folgender Begründung:
Ein eindeutiger Kausalnachweis kann nicht erbracht werden und darf infolgedessen
auch nicht zur Voraussetzung eines Verbotes gemacht werden. Es genügt die für
jeden klar denkenden Menschen hochgradig plausible Überzeugung, daß es einen Zusammenhang
gibt zwischen dem "Konsum" von Gewalt und der zunehmenden Verrohung
der Gesellschaft. Ein gesellschaftlicher Willensentschluß, wonach eine weitere
Verrohung der Gesellschaft nicht hingenommen werden soll, reicht vollkommen
aus.
Auch das immer wieder vorgebrachte Argument, daß ein Verbot
nicht viel bewirken könne, darf nicht ausschlaggebend bleiben. Denn es geht
nicht nur um die Wirksamkeit. Niemand käme auf die Idee, eine Abschaffung des
Tötungsverbots zu fordern mit dem Argument, daß ein solches Verbot offensichtlich
Tötungshandlungen nicht vollkommen unterbinden kann. Neben der direkten Wirkung
eines Verbots, dessen Übertretung mit entsprechender Strenge geahndet werden
müßte, geht es entscheidend auch um die Signalwirkung, die es hätte: Wir wollen
die unzweifelhaft gegebene dehumanisierende, verrohende Auswirkung solcher Produkte
nicht hinnehmen!
Im übrigen ist es fatal, die Debatte über die mögliche
Wirkung gewaltverherrlichender Filme auf Tötungsdelikte zu reduzieren, als ob
die Welt bereits in Ordnung wäre, wenn junge Menschen nicht zu Mördern werden.
Darauf aber läuft Jo Groebels Argument hinaus, 95 Prozent der
"Spieler" seien als Gewalttäter auszuschließen. Was wird damit
bewiesen? Doch nur, daß sie nicht auch im realen Leben eine Waffe in die Hand
nehmen, um ihre Mitmenschen umzubringen, wie sie dies "spielenderweise"
im Cyberspace regelmäßig tun. Welch eine Perversion des menschlichen Geistes,
solche "Spiele" überhaupt herzustellen! Welch eine Verrohung der
Gefühle äußert sich allein schon in dem Bedürfnis, sich mit solchen
"Spielen" zu "vergnügen". Wenn ein deutscher Hochschullehrer
solche Produkte einer kranken Phantasie als "Kulturgut" bezeichnet,
wie Herr Groebel es tut, dann disqualifiziert er sich damit selbst.
Nicht die Frage, wieviel Prozent der "Spieler" in
Gefahr sind, im realen Leben zu Mördern zu werden, gehört ins Zentrum, sondern
die viel zu selten erörterte ganz andere Frage: wie sich die zwangsläufig mit
solchen "Spielen" verbundene Verrohung der Gefühle und der Verlust an
Empathie auf die Gesellschaft
auswirken. Wer Augen hat zu sehen, sieht längst klar. Mache wollen offenkundig
nicht sehen, was offen zutage liegt.
Dr. Johannes Schwarte, Münster
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Die Tagespost vom 29.10.2017
Leserbrief zu einem Artikel von Sebastian Sasse, der über
einen Vortrag Udo di Fabios über das christliche Menschenbild berichtet: "Eine Zeit des Umbruchs" ( DT vom 15.11.2017)
Was heißt Gottebenbildlichkleit?: Nicht Ausgang, sondern Ziel
Sebastian Sasse gebührt Lob für seine ausführliche und
genaue Wiedergabe der Ausführungen Udo di Fabios zum christlichen
Menschenbild (DT vom 16. November).
Diese Ausführungen unterscheiden sich wohltuend von den vielen
pauschalen und summarischen Berufungen auf das christliche Menschenbild,
die inhaltliche Bekanntheit und Klarheit voraussetzen. Viel zu selten
wird inhaltlich erläutert, was unter christlichem Menschenbild
verstanden werden soll. Di Fabio nennt unter Bezugnahme auf Pico della
Mirandola (1463–1494) neben der Gottesebenbildlichkeit und Würde des
Menschen Kreativität und Gestaltungskraft sowie Lern- und
Bildungsfähigkeit.
Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass Pico della Mirandola einen
weiteren wichtigen Aspekt nennt, der in der Berufung auf das christliche
Menschenbild leider oft unerwähnt bleibt: die Ergebnisoffenheit der
Persönlichkeitsentwicklung als Folge der Labilität und Fallibilität des
Menschen, der daraus resultierenden Orientierungsbedürftigkeit mit der
Möglichkeit der Desorientierung.
Dies ist allerdings nicht die Terminologie des Renaissancemenschen.
Bei ihm heißt es: „Die Tiere tragen vom Mutterleib an mit sich, was sie
später besitzen werden. In den Menschen aber hat der Vater gleich bei
seiner Geburt die Samen aller Möglichkeiten und die Lebenskeime jeder
Art hineingelegt. Welche er davon pflegen wird, diejenigen werden
heranwachsen und werden in ihm Früchte bringen.“
Was hier von Pico della Mirandola nur angedeutet wird, kann in
heutiger Terminologie als die Werdeproblematik des Menschen bezeichnet
werden: Der Mensch kommt nicht als „fertiger“ Mensch auf die Welt,
sondern als ein möglicher (natürlich bereits im Vollbesitz der
Menschenwürde!), ein werdender, und er ist in seinem Werdeprozess
(Persönlichkeitsentwicklungsprozess/ Sozialisationsprozess) auf
vielfältige Weise gefährdet. Der Werdeprozess ist ergebnisoffen und
vielfältig beeinflussbar – positiv wie negativ. Solche Ausführungen
stellen den Begriff der Gottesebenbildlichkeit nicht in Frage. Sie
zwingen uns allerdings zu einer dynamischen Sicht dieses Begriffs. Dies
hat schon Johann Gottfried Herder (1744–1804) vorgemacht, indem er die
Gottesebenbildlichkeit nicht als „Ausgangstatsache“, sondern als
Zielbegriff des Menschen auffasste: Die Realisierung dieses Ziels sei
die eigentliche Lebensaufgabe des Menschen, betonte er. Dieses Ziel
kenne der Mensch aus der Offenbarung.
Was früher einmal „Erbsünde“ hieß, ist heute mit „Fallibilität und
Korruptibilität des Menschen“ (Johann Gottfried Herder) zutreffender und
für den modernen Menschen annehmbarer bezeichnet. Eine Dynamisierung
des christlichen Menschenbildes in diesem Sinn ist dringend
erforderlich. Für die sich aus dem christlichen Menschenbild herleitende
Christliche Gesellschaftslehre würde das bedeuten, dass sie die
Gesellschaft als „Raum der Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen“
ins Zentrum ihrer Gesellschaftsanalyse stellen müsste.
Dr. Johannes Schwarte, Münster
Die Tagespost vom 07.03.2016
Erwiderung auf einen Lseserbrief von Hubert Hecker zur Situation des Religionsunterrichts an deutschen Schulen
:
Zur Diskussion um den katholischen
Religionsunterricht an deutschen Schulen:
Glaubenswissen in den
Mittelpunkt stellen
Für die ausführliche Schilderung seiner Erfahrungen als
Religionslehrer gebührt Hubert Hecker hohes Lob. Denn sie eignet sich
vorzüglich als Ausgangspunkt einer Erörterung der eigentlichen Ursachen
und der Frage nach den Kriterien einer Neukonzipierung des schulischen
Religionsunterrichts und seines Selbstverständnisses. Erfreulich ist
immerhin, dass der Begriff Glaubenswissen inzwischen selbstverständlich
gebraucht wird, so dass sein Mangel beklagt werden kann.
Noch vor nicht allzu langer Zeit konnte man in öffentlichen
Diskussionen Irritationen auslösen, wenn man diesen Begriff gebrauchte.
Glauben und Wissen seien doch konträre Begriffe, so wurde dagegen
eingewandt; also könne man sie doch nicht zu einem Begriff
zusammenfügen. In diesem Grundirrtum, dass es beim Glauben nicht um
Wissen gehe, ist sicher eine der entscheidenden Ursachen für die von
Hubert Hecker aufgezeigte Misere des Mangels an Glaubenswissen zu sehen.
Der Begriff des Glaubenswissens müsste ins Zentrum eines neuen
Selbstverständnisses des Religionsunterrichts gerückt werden. Er müsste
an die Stelle des Korrelationsprinzips treten, wonach die Erlebniswelt
der Schüler, ihre Erfahrungen, Interessen und Befindlichkeiten den
Anknüpfungspunkt bilden sollen. Der erschreckende Mangel an
Glaubenswissen muss als Beleg des Scheiterns dieses Prinzips gewertet
werden.
Darüber hinaus ist zu fragen, wie es möglich war, dass die für die
Einführung dieses Prinzips Verantwortlichen ernsthaft glauben konnten,
mittels dieses Prinzips könne man Schülern zentrale Inhalte des
christlichen Glaubens – wie etwa Schöpfung/Schöpfer, Offenbarung,
Erlösung, Auferweckung, Dreifaltigkeit – vermitteln und nahebringen, wo
es sich doch ausnahmslos um Inhalte handelt, zu denen es keine
erfahrungsmäßigen Zugänge gibt und geben kann. Nur über die Weckung des
Sinns für Transzendentes sowie für Mysterien können diese Inhalte
nahegebracht werden. Dabei darf Religionsunterricht die Ebene des
Wissens – auch des abfragbaren Wissens – nicht vernachlässigen.
Ziel des Religionsunterrichts muss der „mündige Christ“ sein, der
imstande ist, „Rechenschaft“ über seinen Glauben zu geben, wie es im 1.
Petrusbrief heißt: „Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen,
der nach dem Grund eurer Hoffnung fragt, die euch erfüllt“ (1 Petr.
3,15).
Dies kann der Christ natürlich nur dann, wenn er über hinreichendes
Glaubenswissen verfügt, um im Bedarfsfall „Rede und Antwort stehen“ zu
können, wenn er nach Inhalten seines Glaubens gefragt wird.
Aufgrund seines erworbenen Glaubenswissens ist der mündige Christ
imstande, die Grundwahrheiten des christlichen Glaubens, wie sie etwa im
Glaubensbekenntnis aufgeführt sind, in knappen eigenen Worten (ohne
Verwendung spezieller theologischer Begrifflichkeit) zu erläutern:
Schöpfer/Schöpfung, Messias/Menschwerdung, Erlöser/Erlösung,
Auferweckung, Geistsendung/Heiliger Geist ... Auch sollte er imstande
sein, den Begriff Offenbarung in seiner Bedeutung für den christlichen
Glauben zu erläutern sowie über die Entstehung der Evangelien Auskunft
zu geben und das Neuartige dieser Textgattung zu erklären.
Diese Fähigkeit ist in heutiger Zeit, in der der christliche Glaube
immer weniger Bestandteil öffentlicher Debatten ist und in der die
Inhalte immer wenig bekannt sind, wichtiger denn je. Der christliche
Glaube wird künftig in Europa nur dann noch gestaltgebende Kraft
bewahren können, wenn es genügend mündige Christen gibt, die ihn in der
Öffentlichkeit kompetent vertreten können.
Im Hinblick auf die Tatsache, dass das kulturelle Erbe Europas so
nachhaltig vom Christentum geprägt ist, dass man viele Elemente dieser
Kultur ohne Kenntnis der christlichen Religion nicht verstehen kann –
angefangen von der theologischen Begründung der christlichen Feste über
Werke der Literatur und Musik bis hin zur darstellenden Kunst – geht es
im Religionsunterricht nicht nur um jenes Wissen, das für das
Verständnis des christlichen Glaubens unerlässlich ist, sondern es geht
weit darüber hinaus: Es geht um Kulturwissen in einem sehr weiten Sinn.
Deshalb führt an der Feststellung kein Weg vorbei: Wer vom
christlichen Glauben keine Ahnung hat, kann auch die Kultur Europas in
ihrer Tiefenschicht nicht verstehen. Er ist nicht nur ein religiöser,
sondern auch ein kultureller Analphabet. Dieser Gesichtspunkt ist mit zu
bedenken, wenn es darum geht, den Religionsunterricht neu zu
konzipieren und ihm ein neues Selbstverständnis zu verleihen.
Dr. Johannes Schwarte, Münster
Die Tagespost vom 16.09.2015
Leserbrief zu einem Artikel von Manfred Spieker über den Genderismus: "Eine anthropologische Revolution" (DT, 04.09.2015)
Gefahren der
Genderideologie: Zum Artikel von Professor Manfred Spieker „Eine
anthropologische Revolution“ :
Wo bleibt der Widerstand?
Der Artikel von Manfred Spieker („Eine anthropologische
Revolution“, DT vom 5. September) sowie die Erwiderung auf ihn im
Leserbrief von Thomas M. Adam („Wer hat Angst vorm bösen Wolf?“, DT vom
8. September) machen auf ein kaum fassbares Phänomen in unserer
Gesellschaft aufmerksam: auf die Etablierung einer Ideologie – der
Ideologie des Genderismus – mit staatlicher Unterstützung ohne
öffentlichen Widerstand, ja sogar ohne dass weite Teile der
Öffentlichkeit dies überhaupt bemerken. Das ist weit über die
inhaltliche Bedeutung des Genderismus hinaus ein bemerkenswertes, ja
besorgniserregendes gesellschaftlich-politisches Phänomen.
Als die Ideologie des Marxismus-Leninismus 1989 ihre Faszination, die
sie bis dahin für viele gehabt hatte, verlor, war vom „Ende des
ideologischen Zeitalters“ die Rede. Darin kam die Überzeugung zum
Ausdruck, dass den Menschen nun gründlich die Augen für die unheimlichen
Konsequenzen ideologischen Denkens aufgegangen seien. Das war
offenkundig ein Irrtum. Eine neue Ideologie hat sich ausgebreitet und
mit staatlicher Unterstützung etabliert, ohne dass es nennenswerten
Widerstand gab oder gibt, auch von Seiten der Kirchen in Deutschland
nicht. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat ihrerseits im
vergangenen Jahr sogar ein eigenes „Studienzentrum für Genderfragen in
Kirche und Gesellschaft“ (in Hannover) etabliert. Man will ja
schließlich auf der Höhe der Zeit sein!
Die Genderisten haben in relativ kurzer Zeit unglaubliche „Erfolge“
erzielen können, wenn man etwa als Maßstab die Anzahl der Professuren in
Deutschland für „Genderstudien“ nimmt (an die zweihundert) sowie die
finanziell komfortabel ausgestatteten Gender-Forschungszentren. Als
vorläufiger Höhepunkt dieser „Erfolgsserie“ kann gelten, dass die
frühere Leiterin des „GenderKompetenzZentrums“ Berlin inzwischen zur
Richterin am Bundesverfassungsgericht und damit zur Interpretin unserer
Verfassungsordnung ernannt wurde.
Diese „Erfolge“ konnten die Genderisten vor allem durch Tarnung
erzielen: Sie bestand darin, dass es ihnen gelang, die Öffentlichkeit
glauben zu machen, es handele sich beim „Gender-Mainstreaming“, wie die
Gender-Ideologie verharmlosend genannt wird, vornehmlich um eine
Bewegung zur Überwindung von Ungleichheit zwischen den Geschlechtern.
Wer konnte und kann dagegen sein? In Wahrheit war und ist der
Genderismus von Anfang an jedoch viel mehr als „nur“ eine besonders
kämpferische und verbal hoch aufgerüstete Bewegung zur Beseitigung von
Ungleichheit und Herstellung von Gleichheit unter den Geschlechtern. Sie
war von Anfang an eine Rebellion gegen die biologischen Grundlagen des
menschlichen Lebens und damit gegen die Grundlagen humanen
gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Die vorrangige Verwendung des Gleichheitsarguments durch die
Genderisten war und ist ein außerordentlich erfolgreiches
Täuschungsmanöver. In Wahrheit geht es dem Genderismus nicht primär um
die Überwindung gesellschaftlicher Ungleichheiten. Wer diese bekämpfen
will, ist nicht auf Versatzstücke der Gender-Ideologie angewiesen. Sie
geben für einen solchen Kampf, sofern er meint, was er sagt, nichts her.
Entschiedener Einsatz für die Überwindung gesellschaftlicher
Ungleichheiten und entschiedene Kritik des Genderismus schließen sich
nicht aus. Es ist durchaus kein Widerspruch, wenn sich jemand ebenso
über den Genderismus und sein Unwesen empört wie über verschiedene
Formen der Ungleichbehandlung von Mann und Frau in unserer Gesellschaft,
etwa in Form von unterschiedlicher Entlohnung für gleichwertige
Tätigkeiten.
Der „Erfolg“ der Genderisten beruht vor allem darauf, dass diese
Tarnung der wahren Zielsetzung vom allergrößten Teil der weltweiten
Öffentlichkeit nicht bemerkt wurde. Zwar hat es an gründlichen Analysen
und scharfen Urteilen nicht gefehlt. Aber sie fanden überwiegend kein
Gehör. Jedenfalls haben sie das öffentliche Bewusstsein offenkundig
nicht beeinflussen können. Zur „Erfolgsgeschichte“ des Genderismus
gehört auch, dass man Kritiker mundtot zu machen versuchte und ihnen,
soweit es sich um Staatsbedienstete handelte, Sanktionen androhte. Als
die mutige Journalistin Birgit Kelle Kritik an der Errichtung des
Gender-Studienzentrums in Hannover übte und fragte, „ob die EKD ein
verlängerter Arm der Genderforschung an Universitäten werden“ wolle, und
hinzufügte, „bald wundert einen gar nichts mehr in der evangelischen
Kirche“, wies der damalige Ratsvorsitzende der EKD Nikolaus Schneider
diese Kritik als „populistische Anbiederei an veränderungsunwillige
konservative Kreise“ zurück. Er freue sich, „dass Verkrustungen einer
jahrtausendealten Männertheologie und Männerkirche aufgebrochen“ würden.
Auch gehört zur „Erfolgsgeschichte“ des Genderismus das Schweigen der
katholischen Bischöfe, wenigstens der deutschen, zu dieser elementaren
gesellschaftlichen Bedrohung durch eine wissenschaftlich getarnte
Ideologie, die die Grundlagen eines humanen gesellschaftlichen
Zusammenlebens bedroht. Dass die Bischöfe dieses herausragende „Zeichen
der Zeit“ bis heute nicht erkannt, jedenfalls nicht darauf reagiert
haben, ist unbegreiflich.
In Norwegen hat ein einzelner Journalist (Harald Eia) bewiesen, dass
die Öffentlichkeit dem totalitären Sog, der inzwischen von der
Gender-Ideologie ausgeht, nicht machtlos ausgeliefert ist. Er hat mit
einer einzigen Fernsehsendung eine öffentliche Debatte über den Irrsinn
des Genderismus ausgelöst, indem er die wissenschaftliche Haltlosigkeit
der Kernthesen der Genderisten einsichtig gemacht hat. Dies ist ihm
dadurch gelungen, dass er führende internationale Wissenschaftler aus
den einschlägigen Fachgebieten zu Überzeugungsäußerungen norwegischer
Genderisten Stellung beziehen ließ. Diese Stellungnahmen waren teilweise
derart vernichtend, dass die Sendung für die Genderisten äußerst
blamabel war. Das wichtigste Ergebnis der durch die Sendung ausgelösten
öffentlichen Debatte war die Streichung der staatlichen Mittel für die
Finanzierung der „Genderforschung“, die bis dahin auch in Norwegen sehr
intensiv betrieben worden war.
Wann endlich erleben auch wir in Deutschland eine solche Debatte?
Hier wartet eine dringende Aufgabe auf die katholischen deutschen
Bischöfe. Aber auch Journalisten müssten in einer Aufklärung über den
Genderismus eine wichtige Aufgabe im Dienst am Allgemeinwohl sehen.
Dr. Johannes Schwarte, Münster
7.
Engagement für Lieder zur deutschen Geschichte