6. Wortmeldungen

 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.07.1994

Der Trick mit dem Ausgrenzungs-Vorwurf

Zu den Artikeln "Die Ehre - Der 20. Juli und seine Feinde" von Jens Jessen (F.A.Z. vom 20. Juli) und "Neuestes Deutschland - die PDS triumphiert im Kulturkampf" von Frank Schirrmacher (F.A.Z. vom 22. Juli):  - "Schon muß sich rechtfertigen, wer Ulbricht und Pieck nicht gleichberechtigt an die Seite Stauffenbergs und Goerdelers zu stellen bereit ist", schreibt Frank Schirrmacher. In der Tat, wer hätte sich eine solche Debatte im Herbst 1989 vorstellen können. Man fragt sich, wie es dahin kommen konnte. Insbesondere fragt man sich, woher die Unentschlossenheit und Halbherzigkeit in der Zurückweisung des "Ausgrenzungs"-Vorwurfs kommt. Daß die PDS aufgrund ihrer ideologischen Tradition, in der der "Antifaschismus" immer ein Tarnbegriff war, hinter dem Ulbricht seine Absicht zu verbergen trachtete, eine weitere Diktatur in Deutschland zu errichten, eine Interpretation des Begriffs "Widerstand" durchdrücken möchte, wonach die bloße Gegnerschaft zu Hitler und zum Nationalsozialismus in sich selbst bereits etwas so Wertvolles darstellt, daß weitere Fragen nach den Motiven und Zielsetzungen gar nicht erst zulässig sein sollen, verwundert nicht weiter. Daß ihr aber vermittels der Tarnvokabel "Ausgrenzung" eine solche Stimmungsmache weit über den Kreis ihrer Anhängerschaft hinaus gelingen konnte, ist verwunderlich und besorgniserregend. Zeigt es doch, wie es um das Urteilsvermögen in unserer Öffentlichkeit bestellt ist. Noch besorgniserregender ist aber, daß "niemand widerspricht", wie Schirrmacher zu Recht schreibt. "Dieses Schweigen, dieses Ausbleiben von Widerspruch kennzeichnet die Lage." Schlimmer noch: Statt fälligen Widerspruch gegen den "Ausgrenzungs"-Vorwurf vorzutragen, beeilten sich nicht wenige unserer Politiker, nun auch ihrerseits vor einer "Ausgrenzung" von Teilen des Widerstandes zu warnen.

Selbst der Bundeskanzler war an jener Stelle seiner Rede am 20. Juli im Bendlerblock, in der er den Ausgrenzungs-Vorwurf indirekt aufnahm, bemerkenswert zurückhaltend (oder argumentationsunsicher?), indem er sagte: "In dem Wofür liegt das Vermächtnis, auf das wir uns im vereinten Deutschland gemeinsam beziehen." Das hätte er durchaus deutlicher sagen können und sollen: Widerstand stellt keinen Wert in sich selbst dar, auch dann nicht, wenn er sich die Beseitigung eines Verbrechers wie Hitler zum Ziel setzt. Hätte Himmler ein Attentat auf Hitler unternommen, um die Macht seinerseits zu usurpieren, so wäre wohl niemand auf die Idee gekommen, ihn dem Widerstand zuzurechnen. Widerstand bezieht seine moralische Rechtfertigung und damit auch seinen Vorbildcharakter erst aus der Absicht, "das Recht wiederherzustellen", wie es die "Männer des 20. Juli" wollten. (Ihre sonstigen konkreten politischen Pläne sind demgegenüber in der nachträglichen Bewertung irrelevant.) Was aber wollte Ulbricht? Ein Blick auf die Politik, die später zu betreiben ihm die Umstände ermöglichten, zeigt dies mit aller Deutlichkeit und verbietet es, ihn neben Stauffenberg zu stellen.

Die durch den gegenwärtigen "Kulturkampf" geforderte "Rechtfertigung" der "Ausgrenzung" Ulbrichts im Sinne der Verweigerung einer gleichberechtigten Zuordnung zu den "Männern des 20. Juli" sollte nicht schwerfallen. Jeder historisch aufgeklärte Deutsche müßte imstande sein, diese "Rechtfertigung" zu liefern, sofern er den Mut hat, Klartext zu reden. Dazu genügen zwei Hinweise: erstens der Hinweis auf die Kontinuität der Konzentrationslager Bautzen und Buchenwald: Während die "Männer des 20. Juli" bereits in den ersten "Walküre"-Anordnungen die Auflösung der Konzentrationslager in Angriff nahmen, hat Ulbricht die beiden genannten Lager "weiterverwendet", um politische Gegner unschädlich zu machen. Zweitens der Hinweis auf den Volksaufstand im Juni 1953 gegen Ulbricht und seine Politik: Welche Absurdität, einen Mann als Widerstandskämpfer ehren zu wollen, der später selbst Panzer gegen Menschen einsetzte, die sich zum Widerstand gegen seine Politik genötigt sahen, weil sie unmenschlich war und demokratische Rechte verweigerte! Welche Absurdität, dies heute überhaupt begründen zu müssen!

Dr. Johannes Schwarte, Münster

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 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.01.1997

Für die familiale Sozialisation blind geworden

Der Artikel von Johannes Weiß "Damit es wieder Überraschungen gibt" (F.A.Z., "Geisteswissenschaften" vom 8. Januar) war überfällig. Es geht bei dem Versuch der Wiederherstellung der verlorengegangenen Kreditwürdigkeit der Soziologie um weit mehr als um das gesunkene Ansehen der Soziologen. Es geht darum, daß unsere Gesellschaft auf die Beiträge der Soziologie bei der Bewältigung gegenwärtiger Probleme nicht verzichten kann, ganz unabhängig davon, ob sie davon inzwischen noch überzeugt ist oder nicht. Denn die spezifischen Fragen der Soziologie werden so woanders eben nicht gestellt. Darum ist es wichtig, daß die Soziologie ihre Fragen auch dann stellt und in die gesellschaftliche Debatte einbringt, wenn schon vorher unbequeme Antworten zu erwarten sind, und daß sie sich selbst keine Denk- und Frageverbote auferlegt, die von politischen Vorentscheidungen und Opportunitäten im Sinne des Palmström-Axioms, "daß nicht sein kann, was nicht sein darf", diktiert sind.

Die fehlende soziologische Dimension in gesellschaftlichen Debatten macht sich inzwischen auch in regierungsamtlichen Dokumenten bemerkbar, wie etwa ein Vergleich des Zweiten Familienberichts der Bundesregierung aus dem Jahre 1975 mit dem Fünften Familienbericht aus dem Jahre 1994 zeigt: Während der erstere unter der Leitfrage abgefaßt war, wie es um die Sozialisationsleistungen der Familien in unserer Gesellschaft bestellt und was zu tun sei, um sie in dieser von ihnen für die Gesellschaft zu erfüllenden wichtigen Aufgabe zu unterstützen - mit der bemerkenswerten Konsequenz, daß Familienpolitik als "Sozialisationspolitik" definiert wurde -, zeichnet sich der letztere durch "Sozialisationsblindheit" aus. Der Begriff kommt kaum noch vor. Er wird überhaupt nur noch verwandt mit Bezug auf die Fragestellung, inwieweit die familialen Sozialisationsleistungen ausreichend seien, um den "Wirtschaftsstandort Deutschland" zu sichern. Die in ihrer Reichhaltigkeit und Differenziertheit beeindruckenden Ausführungen im Zweiten Familienbericht zu den familialen Sozialisationszielen, die aus dem Menschenbild unserer Verfassung hergeleitet wurden, sind im Fünften Familienbericht in dem verräterischen ökonomischen Begriff der "Schaffung von Humankapital" zusammengeschrumpft. Hier hat sich nicht lediglich semantisch etwas verändert, sondern hier ist eine wichtige Perspektive verlorengegangen, die unbedingt wieder zurückgewonnen werden muß, damit unsere Gesellschaft dem erschreckenden Phänomen der zunehmenden Rebarbarisierung und Gewalttätigkeit nicht weiterhin so ratlos gegenübersteht wie bisher.

Dr. Johannes Schwarte, Münster

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  Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06.09.2000

Politisch maskierte Gewalttaten

Christian Geyers Hinweis auf die Bedeutung der öffentlich geäußerten Empörung über die Gewalttaten in seinem Beitrag "Zerreißprobe" (F.A.Z.-Feuilleton vom 5. August) ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Konsensbekundung und der Selbstvergewisserung des Gemeinwesens von Bedeutung, sondern auch zur Dementierung des absurden Anspruchs der Gewalttäter, klammheimliche Vollstrecker eines unartikulierten Volkswillens zu sein. Im Anschluß an den wichtigen Hinweis Geyers auf die Labilität eines Teils der Mitglieder gewalttätiger Gruppen ("Die Mühen der Ächtung", F.A.Z.-Feuilleton vom 10. August), die sich in die Gewaltszene hineinziehen lassen, ohne gleichermaßen ideologisch verbohrt zu sein wie die Anführer und die daher keineswegs endgültig für die Zivilisation und die Demokratie verloren sind, sondern durch entschiedene und rasche Sanktionen durchaus zu "beeindrucken" und "zurückzuholen" sind, ist auch zu bedenken, wie problematisch es ist, solche Gruppierungen so selbstverständlich, wie das in der Regel geschieht, ins politische Spektrum einzuordnen und sie als "Rechtsextremisten" oder "Neonazis" zu bezeichnen. Denn die Täter werden ungewollt aufgewertet und festgelegt, wenn ihnen die Öffentlichkeit zuerkennt, was ihnen gerade fehlt: Identität.

Es wäre wichtig, den psychologischen Mechanismus zu durchschauen und in Rechnung zu stellen, der bewirkt, daß aus mangelnder Identität und Persönlichkeitsstärke Gewalttätigkeit wird: Dieser Mangel weckt das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu Gruppen, die durch "Eindeutigkeit" in der Wirklichkeitsbeurteilung, "Entschiedenheit" im Handeln und extrem autoritäre Strukturen ersatzweise "Identitätsprothesen" zur Verfügung stellen und damit den Persönlichkeitsmangel kompensieren. Deshalb müßte die Analyse der Ursachen eher in psychologischer als in politischer Perspektive erfolgen, dürften die Täter nicht so selbstverständlich als "Rechtsextremisten" oder "Neonazis" bezeichnet werden, sondern müßten Bezeichnungen erhalten, die ihre Persönlichkeitsdefizite signalisieren wie etwa: Chaoten, Zivilisationsfeinde, Menschenverächter, Mörder.

Solange die öffentliche Debatte auf die "politischen" Äußerungen der Gewalttäter fixiert bleibt und jeden Mummenschanz "politisch" nimmt, wird sie nicht zur Erörterung der tieferliegenden Ursachen gelangen. Politische Motivforschung ist fehl an Platze, wo es gilt, Zivilisationsfeindschaft und Barbarei zur Kenntnis zu nehmen. Zu fragen ist nicht primär, aus welchen "politischen Motiven" heraus die Untaten zu erklären sind und woher sie kommen, sondern unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen sich die Persönlichkeitsentwicklungsprozesse der Gewalttäter mit erschreckenden zivilisationsfeindlichen, barbarischen Potentialen vollzogen haben. Nicht wie Menschen sich politisch so verirren können ist die eigentliche Frage, sondern aufgrund welcher Umstände Menschen so werden können, daß sie der Zivilisation eine radikale Absage erteilen.

Die politisch maskierten Gewalttaten müssen im größeren Zusammenhang der zunehmenden Gewalttätigkeit sowie der zunehmenden Kinder- und Jugendkriminalität gesehen und erörtert werden. Jüngste Gewalttaten ohne "politische" Maskierung sind hier besonders aussagekräftig. Das bedeutet auch, daß ein Parteienverbot, ungeachtet der verfassungsrechtlichen Bedenken, die Ulrich K. Preuß im Beitrag "Die empfindsame Demokratie" (F.A.Z.-Feuilleton vom 22. August) dargelegt hat, allenfalls die Symptome unterdrücken und die Täter in den Untergrund treiben könnte, aber zur Bekämpfung der Ursachen nichts beitragen würde. Leser Aloys Lenz weist in seinem Brief "Verbot der NPD - eine zweischneidige Forderung" (F.A.Z. vom 29. August) mit Recht darauf hin, daß es keine einfache Lösung gibt, "den braunen Sumpf erfolgreich trockenzulegen", und daß es vielfältiger Anstrengungen nicht nur der Politik, sondern der gesamten Gesellschaft bedarf. Mehr als alles andere braucht unsere Gesellschaft einen neuen Blick auf den Menschen und seine bleibende Labilität, auf die vielfältigen Möglichkeiten der Fehlentwicklung.

Dr. Johannes Schwarte, Münster

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  Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26.05.2003

Schwere Gewissensentscheidung

Die Öffnung der vatikanischen Archive Mitte Februar hat neben einem Zugewinn an Detailinformationen über prinzipiell bereits Bekanntes auch eine Wiederbelebung von Spekulationen über Sachverhalte zur Folge, die längst geklärt sind. In rascher Folge hat Hubert Wolf in den vergangenen Wochen über einige Details aus den neu zugänglichen Dokumenten informiert, die für die Öffentlichkeit von großem Interesse sind und bisherige Kenntnisse der Historiker verfeinern und erweitern. Leider wird in seinen Veröffentlichungen nicht immer hinreichend deutlich, was daran neu ist, wo die bisherigen Kenntnisse bestätigt und wo sie modifiziert werden. Dies gilt insbesondere für seinen Artikel "Vertagt auf unbestimmte Zeit" (F.A.Z. vom 12. April). Es wäre sinnvoll gewesen, die Öffentlichkeit auch darüber noch zu informieren, daß sie nicht die einzige Äußerung zum Rassismus geblieben ist. Am 13. April 1938 erhielten alle katholischen Einrichtungen und Bischöfe im Auftrag Papst Pius' XI.  ein Schreiben mit der Aufforderung, der rassistischen Lehre, die in zehn Thesen zusammengefaßt vorgestellt wurde, offensiv-argumentativ entgegenzutreten. Im übrigen ließ Pius XI. dieses Schreiben mit den zehn zurückzuweisenden Thesen ganz bewußt ausgerechnet am 3. Mai 1938 im Osservatore Romano zur "Begrüßung" Hitlers veröffentlichen, der an diesem Tag zum Staatsbesuch in Rom eintraf. Pius XI. selbst zog sich rechtzeitig nach Castel Gandolfo zurück, weil ihm, wie er öffentlich erklären ließ, "in Rom die Luft unerträglich" sei. Er ließ darüber hinaus die vatikanischen Museen für die Tage des Führerbesuchs schließen und verbot das Hissen der nationalsozialistischen Flagge auf allen kirchlichen Gebäuden. Leser Francesco Merlino (F.A.Z. vom 28. April) wurde von mir bereits vor etlichen Jahren an anderer Stelle darauf hingewiesen, daß seine nun in seinem Leserbrief wiederholte Behauptung, es habe zwei unbrauchbare Entwürfe zu einer Enzyklika gegen den Rassismus gegeben, nicht zutreffe. Der authentische Text steht der Öffentlichkeit seit meiner Veröffentlichung über den Jesuiten Gustav Gundlach im Jahre 1975 vollständig zur Verfügung, so daß sich jeder selbst ein Urteil bilden kann.

So bestimmt Rolf Hochhuths Schauspiel "Der Stellvertreter" für viele Menschen nach wie vor das öffentliche Geschichtsbild mehr als die Ergebnisse der historischen Forschung, die längst ein sehr differenziertes Bild Papst Pius' XII. gezeichnet haben, speziell hinsichtlich seines Verhaltens während des Zweiten Weltkrieges. Zwar kann auch sie das Faktum nicht bestreiten, daß Pius XII. bewußt auf die Veröffentlichung des fertigen Entwurfs einer Enzyklika gegen den Rassismus verzichtet und auch ebenso bewußt eine öffentliche Anprangerung der nationalsozialistischen Verbrechen unterlassen hat. Sie zeigt allerdings, daß Pius XII. glaubte, eine öffentliche Anprangerung unterlassen zu müssen, um noch größere Übel zu verhindern ("ad maiora mala vitanda"). Natürlich kann und darf darüber kontrovers diskutiert werden, ob diese Entscheidung richtig war; aber es darf dabei nicht außer acht bleiben, daß es für ihn eine schwere Gewissensentscheidung war, die er so und nicht anders getroffen hat. Das kann man gewiß nicht von allen historisch anfechtbaren Entscheidungen sagen.

Dr. Johannes Schwarte, Münster

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   Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 30.11.2003

Gefährlich

Zu "Alter, verpiß dich!" von Matthias Heine (23. November):

Ungeachtet mancher Überzeichnungen liefert der Artikel einen wichtigen Beitrag zur Analyse der gegenwärtigen kritischen Situation unserer Gesellschaft. Denn er zeigt, daß wir nicht nur in einer Krise des Arbeitsmarktes, des Gesundheitswesens und der sozialen Sicherungssysteme stecken, sondern auch - vielleicht sogar vor allem - in einer psychischen beziehungsweise Mentalitätskrise. Die Folgen der unübersehbaren Infantilisierungstendenzen in unserer Gesellschaft sind vielfältiger Art und in ihrer Bedeutung kaum abzuschätzen. Und doch ist dieses Phänomen bisher kaum Gegenstand der öffentlichen Erörterung. Vielmehr tragen nicht zuletzt auch die Medien zu seiner weiteren Verbreitung und - was noch gravierender ist - zu seiner "Normalisierung" bei. Da wird selbst in den öffentlich-rechtlichen Sendern, deren Aufgabe es wäre, kritisch über dieses Phänomen zu berichten und in diesem Sinne aufzuklären, durch die Berichterstattung über den Rummel beim Erscheinen des jeweils neuesten "Harry Potter" eine Sogwirkung erzeugt, die beim durchschnittlichen Fernsehzuschauer inzwischen ein erhebliches Maß an innerer Unabhängigkeit erfordert, wenn er dagegen immun bleiben will. Wagt es jemand, auf die Gefahren solcher Sogwirkungen aufmerksam zu machen, wie dies jüngst Kardinal Ratzinger unter einem ganz bestimmten Aspekt getan hat, so weiß ein Großteil unserer Presse darauf nicht anders zu reagieren als mit Hohn und Spott, statt sich auf eine ernsthafte Diskussion über die Folgen des Harry-Potter-Phänomens und anderer Infantilisierungsphänomene, von denen Matthias Heine einige aufgezeigt hat, einzulassen.

Dr. Johannes Schwarte, Münster

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Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.08.2005

Paradigmenwechsel in der Bildungsdebatte

Es ist zu wünschen, daß der Artikel "Das Ende der Kindheit" von Andreas Kilb (F.A.Z. vom 12. August) den Auftakt zu einer sehr grundsätzlichen Debatte darüber bildet, welche Persönlichkeitsentwicklungsbedingungen unsere Gesellschaft ihrem Nachwuchs bietet. Zwar wird inzwischen darüber debattiert, wie es gelingen könnte, die Geburtenrate wieder zu steigern, um den Trend zur Überalterung der Gesellschaft zu stoppen. Aber noch immer geht unsere Gesellschaft viel zu selbstverständlich davon aus, daß aus ihren neugeborenen Mitgliedern dereinst lebenstüchtige und mündige Bürger werden. Sie nimmt die seit vielen Jahren ständig weiter ansteigende Anzahl von Kindern mit so gravierenden Persönlichkeitsentwicklungsstörungen, daß ihre Bildungsergebnisse defizitär sein müssen, nicht zur Kenntnis. Die durch den Pisa-Schock ausgelöste Bildungsdebatte stellt vielerlei Ursachenvermutungen an; aber die Frage, ob womöglich die Hauptursache in der höchst mangelhaften Persönlichkeitsentwicklung vieler Schulkinder liegen könnte, wird kaum gestellt. Die Debatte hält an der Fiktion gegebener Schulfähigkeit der Schulkinder fest, als seien sie heute wie eh und je. Daß nach Schätzungen von Experten etwa zwanzig Prozent zu den "neuen Kindern" mit erheblichen Defiziten in verschiedenen Bereichen (Konzentrations- und Sprechvermögen, Sozialverhalten) zu rechnen sind, wird nicht zur Kenntnis genommen.

Abhilfe setzt eine klare Kenntnis der Ursachen voraus. Dazu enthält der Artikel eine wichtige Feststellung: "Jene autistische Asozialität, jene Unempfindlichkeit für die Wünsche und Schmerzen anderer, jene Kompromiß- und Kommunikationsunfähigkeit, von der immer mehr Grundschullehrer berichten, ist kein individuelles, sondern ein allgemeines, schichtübergreifendes Syndrom". Wichtiger noch als die gegenwärtig im Vordergrund stehenden Fragen nach Verbesserungsmöglichkeiten der Organisation schulischer Lernprozesse sind die kaum gestellten nach den erforderlichen Persönlichkeitsmerkmalen als Voraussetzungen für erfolgreiche Bildungsprozesse, welche die Schüler bereits in die Schule "mitbringen" müssen: Angstfreiheit, seelische Ausgeglichenheit, Ich-Stärke, Konzentrationsfähigkeit, geistige Wachheit, Neugierverhalten (Interesse), Leistungsmotivation und nachhaltige Leistungsfähigkeit.

Soll die Schule ihren Bildungsvermittlungsauftrag erfolgreich erfüllen, so muß sie diese Persönlichkeitsmerkmale bei den Schülern voraussetzen können. Defizite in diesen Bereichen kann sie kaum noch ausgleichen. Der dringend erforderliche Paradigmenwechsel in der Bildungsdebatte muß darin bestehen, daß der erfolgreichen Persönlichkeitsentwicklung der Kinder mindestens die gleiche Aufmerksamkeit zuteil wird wie der Förderung ihrer Intelligenz (deren Bedeutung für den Bildungserfolg tendenziell oft überschätzt wird). Da die für den Bildungserfolg entscheidenden Persönlichkeitsmerkmale bereits in der frühkindlichen Entwicklungsphase ausgeprägt werden, müssen die sehr störanfälligen und ergebnisoffenen frühkindlichen Persönlichkeitsentwicklungsprozesse und ihre gesellschaftlichen "Rahmenbedingungen" in den Blick genommen und, was letztere betrifft, der Kritik unterzogen werden. Dafür wiederum ist eine bessere anthropologische Aufklärung der Öffentlichkeit im Sinne einer Vermittlung wichtiger Erkenntnisse der anthropologischen Wissenschaften über die Ergebnisoffenheit und Anfälligkeit des Persönlichkeitsentwicklungsprozesses für Störungen dringend erforderlich. In dieser Hinsicht gibt es erhebliche Defizite im öffentlichen gesellschaftlichen Bewußtsein. Unsere Gesellschaft verhält sich, als ob es die Erkenntnisse über die vielfältigen negativen Einflüsse auf die Ergebnisse der Persönlichkeitsentwicklungsprozesse nicht gäbe.

Es dominiert anscheinend noch immer eine quasi-naturwüchsige Vorstellung über den Vorgang der Persönlichkeitsentwicklung: als ob es nur eine Frage der Zeit wäre, bis aus dem neugeborenen Menschenkind eine reife Persönlichkeit und ein mündiger Bürger geworden ist. Unsere Gesellschaft verhält sich, als glaubte sie nicht ernsthaft daran, "daß Menschsein von der Wurzel her total mißlingen kann", wie der Biologe und Sozialisationsforscher Joachim Illies festgestellt hat. Eine Überwindung dieser unangemessenen naturwüchsigen Sichtweise durch Aneignung von anthropologischen und sozialisationstheoretischen Erkenntnissen ist dringend erforderlich. Die Betrachtung des Persönlichkeitsentwicklungsprozesses in sozialisationstheoretischer Perspektive öffnet den Blick für die Ergebnisoffenheit und Störanfälligkeit dieses Prozesses und schärft das Bewußtsein dafür, daß all jene gesellschaftlichen Faktoren, die - zumeist ungewollt - Einfluß auf die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen nehmen, auch eine Mitverantwortung für die Ergebnisse haben. Daraus wiederum müßten sehr weitreichende gesellschaftliche, politische und (straf)rechtliche Konsequenzen gezogen werden, die hier nicht weiter dargelegt werden können.

Dr. Johannes Schwarte, Münster

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Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 3.12.2006

 Willige Gutachter

 Leserbrief zum Artikel "Mit aller Gewalt" von Anna von Münchhausen und Julia Schaaf (FAS vom 26.11. 2006):

Es gibt in unserer Gesellschaft mancherlei Absurditäten. Dazu zählt auch die endlose Debatte über das Pro und Contra eines Verbots von gewaltverherrlichenden Filmen, "Spielen" und sogenannten "Killerspielen". Vor Jahren wies ein Experte darauf hin, daß zu dieser Frage in Deutschland inzwischen weit über einhundert (!) Gutachten pro und contra verfaßt worden seien. Diese Debatte wird - das kann vorhergesagt werden - endlos weitergehen, solange es hingenommen wird, daß die Gewaltproduzentenlobby eindeutige Kausalnachweise hinsichtlich eines Zusammenhangs zwischen ihren Produkten und der hohen Gewalttätigkeitsschwelle in unserer Gesellschaft fordert. Sie wird auch weiterhin noch so gewichtige wissenschaftliche Ergebnisse durch "Gegengutachten" zu entkräften versuchen und sich in dieser Beziehung nicht lumpen lassen, denn es steht für sie viel auf dem Spiel. Es ist an der Zeit, daß die Politik diese Absurdität durch einen mutigen Schritt beendet und die Produktion und den Vertrieb gewaltverherrlichender Filme und "Spiele" prinzipiell verbietet, und zwar mit folgender Begründung: Ein eindeutiger Kausalnachweis kann nicht erbracht werden und darf infolgedessen auch nicht zur Voraussetzung eines Verbotes gemacht werden. Es genügt die für jeden klar denkenden Menschen hochgradig plausible Überzeugung, daß es einen Zusammenhang gibt zwischen dem "Konsum" von Gewalt und der zunehmenden Verrohung der Gesellschaft. Ein gesellschaftlicher Willensentschluß, wonach eine weitere Verrohung der Gesellschaft nicht hingenommen werden soll, reicht vollkommen aus. 

Auch das immer wieder vorgebrachte Argument, daß ein Verbot nicht viel bewirken könne, darf nicht ausschlaggebend bleiben. Denn es geht nicht nur um die Wirksamkeit. Niemand käme auf die Idee, eine Abschaffung des Tötungsverbots zu fordern mit dem Argument, daß ein solches Verbot offensichtlich Tötungshandlungen nicht vollkommen unterbinden kann. Neben der direkten Wirkung eines Verbots, dessen Übertretung mit entsprechender Strenge geahndet werden müßte, geht es entscheidend auch um die Signalwirkung, die es hätte: Wir wollen die unzweifelhaft gegebene dehumanisierende, verrohende Auswirkung solcher Produkte nicht hinnehmen!

Im übrigen ist es fatal, die Debatte über die mögliche Wirkung gewaltverherrlichender Filme auf Tötungsdelikte zu reduzieren, als ob die Welt bereits in Ordnung wäre, wenn junge Menschen nicht zu Mördern werden. Darauf aber läuft Jo Groebels Argument hinaus, 95 Prozent der "Spieler" seien als Gewalttäter auszuschließen. Was wird damit bewiesen? Doch nur, daß sie nicht auch im realen Leben eine Waffe in die Hand nehmen, um ihre Mitmenschen umzubringen, wie sie dies "spielenderweise" im Cyberspace regelmäßig tun. Welch eine Perversion des menschlichen Geistes, solche "Spiele" überhaupt herzustellen! Welch eine Verrohung der Gefühle äußert sich allein schon in dem Bedürfnis, sich mit solchen "Spielen" zu "vergnügen". Wenn ein deutscher Hochschullehrer solche Produkte einer kranken Phantasie als "Kulturgut" bezeichnet, wie Herr Groebel es tut, dann disqualifiziert er sich damit selbst.

Nicht die Frage, wieviel Prozent der "Spieler" in Gefahr sind, im realen Leben zu Mördern zu werden, gehört ins Zentrum, sondern die viel zu selten erörterte ganz andere Frage: wie sich die zwangsläufig mit solchen "Spielen" verbundene Verrohung der Gefühle und der Verlust an Empathie  auf die Gesellschaft auswirken. Wer Augen hat zu sehen, sieht längst klar. Mache wollen offenkundig nicht sehen, was offen zutage liegt.

Dr. Johannes Schwarte, Münster

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Die Tagespost vom 29.10.2017

Leserbrief zu einem Artikel von Sebastian Sasse, der über einen Vortrag Udo di Fabios über das christliche Menschenbild  berichtet: "Eine Zeit des Umbruchs" ( DT vom 15.11.2017)

Was heißt Gottebenbildlichkleit?: Nicht Ausgang, sondern Ziel

Sebastian Sasse gebührt Lob für seine ausführliche und genaue Wiedergabe der Ausführungen Udo di Fabios zum christlichen Menschenbild (DT vom 16. November).

Diese Ausführungen unterscheiden sich wohltuend von den vielen pauschalen und summarischen Berufungen auf das christliche Menschenbild, die inhaltliche Bekanntheit und Klarheit voraussetzen. Viel zu selten wird inhaltlich erläutert, was unter christlichem Menschenbild verstanden werden soll. Di Fabio nennt unter Bezugnahme auf Pico della Mirandola (1463–1494) neben der Gottesebenbildlichkeit und Würde des Menschen Kreativität und Gestaltungskraft sowie Lern- und Bildungsfähigkeit.

Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass Pico della Mirandola einen weiteren wichtigen Aspekt nennt, der in der Berufung auf das christliche Menschenbild leider oft unerwähnt bleibt: die Ergebnisoffenheit der Persönlichkeitsentwicklung als Folge der Labilität und Fallibilität des Menschen, der daraus resultierenden Orientierungsbedürftigkeit mit der Möglichkeit der Desorientierung.

Dies ist allerdings nicht die Terminologie des Renaissancemenschen. Bei ihm heißt es: „Die Tiere tragen vom Mutterleib an mit sich, was sie später besitzen werden. In den Menschen aber hat der Vater gleich bei seiner Geburt die Samen aller Möglichkeiten und die Lebenskeime jeder Art hineingelegt. Welche er davon pflegen wird, diejenigen werden heranwachsen und werden in ihm Früchte bringen.“

Was hier von Pico della Mirandola nur angedeutet wird, kann in heutiger Terminologie als die Werdeproblematik des Menschen bezeichnet werden: Der Mensch kommt nicht als „fertiger“ Mensch auf die Welt, sondern als ein möglicher (natürlich bereits im Vollbesitz der Menschenwürde!), ein werdender, und er ist in seinem Werdeprozess (Persönlichkeitsentwicklungsprozess/ Sozialisationsprozess) auf vielfältige Weise gefährdet. Der Werdeprozess ist ergebnisoffen und vielfältig beeinflussbar – positiv wie negativ. Solche Ausführungen stellen den Begriff der Gottesebenbildlichkeit nicht in Frage. Sie zwingen uns allerdings zu einer dynamischen Sicht dieses Begriffs. Dies hat schon Johann Gottfried Herder (1744–1804) vorgemacht, indem er die Gottesebenbildlichkeit nicht als „Ausgangstatsache“, sondern als Zielbegriff des Menschen auffasste: Die Realisierung dieses Ziels sei die eigentliche Lebensaufgabe des Menschen, betonte er. Dieses Ziel kenne der Mensch aus der Offenbarung.

Was früher einmal „Erbsünde“ hieß, ist heute mit „Fallibilität und Korruptibilität des Menschen“ (Johann Gottfried Herder) zutreffender und für den modernen Menschen annehmbarer bezeichnet. Eine Dynamisierung des christlichen Menschenbildes in diesem Sinn ist dringend erforderlich. Für die sich aus dem christlichen Menschenbild herleitende Christliche Gesellschaftslehre würde das bedeuten, dass sie die Gesellschaft als „Raum der Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen“ ins Zentrum ihrer Gesellschaftsanalyse stellen müsste.

Dr. Johannes Schwarte, Münster

Die Tagespost vom 07.03.2016

Erwiderung auf einen Lseserbrief von Hubert Hecker zur Situation des Religionsunterrichts an deutschen Schulen
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Zur Diskussion um den katholischen Religionsunterricht an deutschen Schulen:

Glaubenswissen in den Mittelpunkt stellen

Für die ausführliche Schilderung seiner Erfahrungen als Religionslehrer gebührt Hubert Hecker hohes Lob. Denn sie eignet sich vorzüglich als Ausgangspunkt einer Erörterung der eigentlichen Ursachen und der Frage nach den Kriterien einer Neukonzipierung des schulischen Religionsunterrichts und seines Selbstverständnisses. Erfreulich ist immerhin, dass der Begriff Glaubenswissen inzwischen selbstverständlich gebraucht wird, so dass sein Mangel beklagt werden kann.

Noch vor nicht allzu langer Zeit konnte man in öffentlichen Diskussionen Irritationen auslösen, wenn man diesen Begriff gebrauchte. Glauben und Wissen seien doch konträre Begriffe, so wurde dagegen eingewandt; also könne man sie doch nicht zu einem Begriff zusammenfügen. In diesem Grundirrtum, dass es beim Glauben nicht um Wissen gehe, ist sicher eine der entscheidenden Ursachen für die von Hubert Hecker aufgezeigte Misere des Mangels an Glaubenswissen zu sehen.

Der Begriff des Glaubenswissens müsste ins Zentrum eines neuen Selbstverständnisses des Religionsunterrichts gerückt werden. Er müsste an die Stelle des Korrelationsprinzips treten, wonach die Erlebniswelt der Schüler, ihre Erfahrungen, Interessen und Befindlichkeiten den Anknüpfungspunkt bilden sollen. Der erschreckende Mangel an Glaubenswissen muss als Beleg des Scheiterns dieses Prinzips gewertet werden.

Darüber hinaus ist zu fragen, wie es möglich war, dass die für die Einführung dieses Prinzips Verantwortlichen ernsthaft glauben konnten, mittels dieses Prinzips könne man Schülern zentrale Inhalte des christlichen Glaubens – wie etwa Schöpfung/Schöpfer, Offenbarung, Erlösung, Auferweckung, Dreifaltigkeit – vermitteln und nahebringen, wo es sich doch ausnahmslos um Inhalte handelt, zu denen es keine erfahrungsmäßigen Zugänge gibt und geben kann. Nur über die Weckung des Sinns für Transzendentes sowie für Mysterien können diese Inhalte nahegebracht werden. Dabei darf Religionsunterricht die Ebene des Wissens – auch des abfragbaren Wissens – nicht vernachlässigen.

Ziel des Religionsunterrichts muss der „mündige Christ“ sein, der imstande ist, „Rechenschaft“ über seinen Glauben zu geben, wie es im 1. Petrusbrief heißt: „Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach dem Grund eurer Hoffnung fragt, die euch erfüllt“ (1 Petr. 3,15).

Dies kann der Christ natürlich nur dann, wenn er über hinreichendes Glaubenswissen verfügt, um im Bedarfsfall „Rede und Antwort stehen“ zu können, wenn er nach Inhalten seines Glaubens gefragt wird.

Aufgrund seines erworbenen Glaubenswissens ist der mündige Christ imstande, die Grundwahrheiten des christlichen Glaubens, wie sie etwa im Glaubensbekenntnis aufgeführt sind, in knappen eigenen Worten (ohne Verwendung spezieller theologischer Begrifflichkeit) zu erläutern: Schöpfer/Schöpfung, Messias/Menschwerdung, Erlöser/Erlösung, Auferweckung, Geistsendung/Heiliger Geist ... Auch sollte er imstande sein, den Begriff Offenbarung in seiner Bedeutung für den christlichen Glauben zu erläutern sowie über die Entstehung der Evangelien Auskunft zu geben und das Neuartige dieser Textgattung zu erklären.

Diese Fähigkeit ist in heutiger Zeit, in der der christliche Glaube immer weniger Bestandteil öffentlicher Debatten ist und in der die Inhalte immer wenig bekannt sind, wichtiger denn je. Der christliche Glaube wird künftig in Europa nur dann noch gestaltgebende Kraft bewahren können, wenn es genügend mündige Christen gibt, die ihn in der Öffentlichkeit kompetent vertreten können.

Im Hinblick auf die Tatsache, dass das kulturelle Erbe Europas so nachhaltig vom Christentum geprägt ist, dass man viele Elemente dieser Kultur ohne Kenntnis der christlichen Religion nicht verstehen kann – angefangen von der theologischen Begründung der christlichen Feste über Werke der Literatur und Musik bis hin zur darstellenden Kunst – geht es im Religionsunterricht nicht nur um jenes Wissen, das für das Verständnis des christlichen Glaubens unerlässlich ist, sondern es geht weit darüber hinaus: Es geht um Kulturwissen in einem sehr weiten Sinn.

Deshalb führt an der Feststellung kein Weg vorbei: Wer vom christlichen Glauben keine Ahnung hat, kann auch die Kultur Europas in ihrer Tiefenschicht nicht verstehen. Er ist nicht nur ein religiöser, sondern auch ein kultureller Analphabet. Dieser Gesichtspunkt ist mit zu bedenken, wenn es darum geht, den Religionsunterricht neu zu konzipieren und ihm ein neues Selbstverständnis zu verleihen.

Dr. Johannes Schwarte, Münster


Die Tagespost vom 16.09.2015

Leserbrief zu einem Artikel von Manfred Spieker über den Genderismus: "Eine anthropologische Revolution" (DT, 04.09.2015)

Gefahren der Genderideologie: Zum Artikel von Professor Manfred Spieker „Eine anthropologische Revolution“ :
Wo bleibt der Widerstand? 

Der Artikel von Manfred Spieker („Eine anthropologische Revolution“, DT vom 5. September) sowie die Erwiderung auf ihn im Leserbrief von Thomas M. Adam („Wer hat Angst vorm bösen Wolf?“, DT vom 8. September) machen auf ein kaum fassbares Phänomen in unserer Gesellschaft aufmerksam: auf die Etablierung einer Ideologie – der Ideologie des Genderismus – mit staatlicher Unterstützung ohne öffentlichen Widerstand, ja sogar ohne dass weite Teile der Öffentlichkeit dies überhaupt bemerken. Das ist weit über die inhaltliche Bedeutung des Genderismus hinaus ein bemerkenswertes, ja besorgniserregendes gesellschaftlich-politisches Phänomen.

Als die Ideologie des Marxismus-Leninismus 1989 ihre Faszination, die sie bis dahin für viele gehabt hatte, verlor, war vom „Ende des ideologischen Zeitalters“ die Rede. Darin kam die Überzeugung zum Ausdruck, dass den Menschen nun gründlich die Augen für die unheimlichen Konsequenzen ideologischen Denkens aufgegangen seien. Das war offenkundig ein Irrtum. Eine neue Ideologie hat sich ausgebreitet und mit staatlicher Unterstützung etabliert, ohne dass es nennenswerten Widerstand gab oder gibt, auch von Seiten der Kirchen in Deutschland nicht. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat ihrerseits im vergangenen Jahr sogar ein eigenes „Studienzentrum für Genderfragen in Kirche und Gesellschaft“ (in Hannover) etabliert. Man will ja schließlich auf der Höhe der Zeit sein!

Die Genderisten haben in relativ kurzer Zeit unglaubliche „Erfolge“ erzielen können, wenn man etwa als Maßstab die Anzahl der Professuren in Deutschland für „Genderstudien“ nimmt (an die zweihundert) sowie die finanziell komfortabel ausgestatteten Gender-Forschungszentren. Als vorläufiger Höhepunkt dieser „Erfolgsserie“ kann gelten, dass die frühere Leiterin des „GenderKompetenzZentrums“ Berlin inzwischen zur Richterin am Bundesverfassungsgericht und damit zur Interpretin unserer Verfassungsordnung ernannt wurde.

Diese „Erfolge“ konnten die Genderisten vor allem durch Tarnung erzielen: Sie bestand darin, dass es ihnen gelang, die Öffentlichkeit glauben zu machen, es handele sich beim „Gender-Mainstreaming“, wie die Gender-Ideologie verharmlosend genannt wird, vornehmlich um eine Bewegung zur Überwindung von Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Wer konnte und kann dagegen sein? In Wahrheit war und ist der Genderismus von Anfang an jedoch viel mehr als „nur“ eine besonders kämpferische und verbal hoch aufgerüstete Bewegung zur Beseitigung von Ungleichheit und Herstellung von Gleichheit unter den Geschlechtern. Sie war von Anfang an eine Rebellion gegen die biologischen Grundlagen des menschlichen Lebens und damit gegen die Grundlagen humanen gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Die vorrangige Verwendung des Gleichheitsarguments durch die Genderisten war und ist ein außerordentlich erfolgreiches Täuschungsmanöver. In Wahrheit geht es dem Genderismus nicht primär um die Überwindung gesellschaftlicher Ungleichheiten. Wer diese bekämpfen will, ist nicht auf Versatzstücke der Gender-Ideologie angewiesen. Sie geben für einen solchen Kampf, sofern er meint, was er sagt, nichts her. Entschiedener Einsatz für die Überwindung gesellschaftlicher Ungleichheiten und entschiedene Kritik des Genderismus schließen sich nicht aus. Es ist durchaus kein Widerspruch, wenn sich jemand ebenso über den Genderismus und sein Unwesen empört wie über verschiedene Formen der Ungleichbehandlung von Mann und Frau in unserer Gesellschaft, etwa in Form von unterschiedlicher Entlohnung für gleichwertige Tätigkeiten.

Der „Erfolg“ der Genderisten beruht vor allem darauf, dass diese Tarnung der wahren Zielsetzung vom allergrößten Teil der weltweiten Öffentlichkeit nicht bemerkt wurde. Zwar hat es an gründlichen Analysen und scharfen Urteilen nicht gefehlt. Aber sie fanden überwiegend kein Gehör. Jedenfalls haben sie das öffentliche Bewusstsein offenkundig nicht beeinflussen können. Zur „Erfolgsgeschichte“ des Genderismus gehört auch, dass man Kritiker mundtot zu machen versuchte und ihnen, soweit es sich um Staatsbedienstete handelte, Sanktionen androhte. Als die mutige Journalistin Birgit Kelle Kritik an der Errichtung des Gender-Studienzentrums in Hannover übte und fragte, „ob die EKD ein verlängerter Arm der Genderforschung an Universitäten werden“ wolle, und hinzufügte, „bald wundert einen gar nichts mehr in der evangelischen Kirche“, wies der damalige Ratsvorsitzende der EKD Nikolaus Schneider diese Kritik als „populistische Anbiederei an veränderungsunwillige konservative Kreise“ zurück. Er freue sich, „dass Verkrustungen einer jahrtausendealten Männertheologie und Männerkirche aufgebrochen“ würden.

Auch gehört zur „Erfolgsgeschichte“ des Genderismus das Schweigen der katholischen Bischöfe, wenigstens der deutschen, zu dieser elementaren gesellschaftlichen Bedrohung durch eine wissenschaftlich getarnte Ideologie, die die Grundlagen eines humanen gesellschaftlichen Zusammenlebens bedroht. Dass die Bischöfe dieses herausragende „Zeichen der Zeit“ bis heute nicht erkannt, jedenfalls nicht darauf reagiert haben, ist unbegreiflich.

In Norwegen hat ein einzelner Journalist (Harald Eia) bewiesen, dass die Öffentlichkeit dem totalitären Sog, der inzwischen von der Gender-Ideologie ausgeht, nicht machtlos ausgeliefert ist. Er hat mit einer einzigen Fernsehsendung eine öffentliche Debatte über den Irrsinn des Genderismus ausgelöst, indem er die wissenschaftliche Haltlosigkeit der Kernthesen der Genderisten einsichtig gemacht hat. Dies ist ihm dadurch gelungen, dass er führende internationale Wissenschaftler aus den einschlägigen Fachgebieten zu Überzeugungsäußerungen norwegischer Genderisten Stellung beziehen ließ. Diese Stellungnahmen waren teilweise derart vernichtend, dass die Sendung für die Genderisten äußerst blamabel war. Das wichtigste Ergebnis der durch die Sendung ausgelösten öffentlichen Debatte war die Streichung der staatlichen Mittel für die Finanzierung der „Genderforschung“, die bis dahin auch in Norwegen sehr intensiv betrieben worden war.

Wann endlich erleben auch wir in Deutschland eine solche Debatte? Hier wartet eine dringende Aufgabe auf die katholischen deutschen Bischöfe. Aber auch Journalisten müssten in einer Aufklärung über den Genderismus eine wichtige Aufgabe im Dienst am Allgemeinwohl sehen.

Dr. Johannes Schwarte, Münster




 

7. Engagement für Lieder zur deutschen Geschichte